Wydanie/Ausgabe 131/04.04.2024

In drei Jahren geht das 20. Jahrhundert zu ende. Historiker bezeichnen es als „Jahrhundert stürmischer Entwicklungen“. Eine Fülle von Ereignissen führte zu tiefgreifenden Veränderungen in der Geschichte, Politik und Wirtschaft, in Technik und Wissenschaft, Kultur und Kunst. Sie prägten die Gesellschaft und gaben ihr ein neues Gesicht. Amerika stieg zur Weltmacht Nr. 1 auf. Daneben wurde Rußland die zweite Weltmacht. Auch Europa bekam ein anderes Gesicht.

Ich selbst, dessen Leben 1914 begann und sich auf das ganze Jahrhundert erstreckte, wurde natürlich von ihm geformt.

Die Geschichte unseres Vaterlandes wird durch zwei verlorene Weltkriege bestimmt. Nach dem 1. Weltkrieg 1914-1918 beschert der Versailler Vertrag dem deutschen Volk hohe Reparationskosten, den Verlust aller Kolonien und die Abtretung wertvoller Gebiete. So wurden trotz einer für Deutschland positiv ausgegangenen Volksabstimmung auch das Industriegebiet Oberschlesiens zu einem großen Teil Polen zugesprochen.

1918 dankt Kaiser Wilhelm II. ab. Mit der Weimarer Republik konstituiert sich die erste Demokratie unserer Geschichte. Sie ist anfangs gegen Not, Hunger und Arbeitslosigkeit machtlos. Leichte Besserung bringt 1923 die Inflation mit dem Umtausch der Rentenmark gegen die Reichsmark. Vorher bezahlen die Hausfrauen den Lebensunterhalt ihrer Familien mit großen Milliarden und sogar Billionen-Geldscheinen. Ein Ei kostet z. B. zuletzt 320 Milliarden Mark.

Die relative Stabilität hält bis 1929 an. Der Bankenkrach in Amerika stürzt die Welt in eine folgenschwere Wirtschaftskrise und leitet den Niedergang unserer Republik ein. Mit sechs Millionen Arbeitslosen und einem Produktionsrückgang um 50% können unsere immer häufiger wechselnden Koalitionsregierungen unter den Kanzlern Brüning, von Papen und Schleicher nicht fertig werden.

Auf dem Nährboden sozialer und politischer Spannungen im bürgerlichen Lager ist das Anwachsen der von Adolf Hitler gesteuerten nationalsozialistischen Bewegung nicht mehr aufzuhalten. Weite Kreise der Bevölkerung erhofften sich, ebenso wie das Volk in Italien und Spanien von einer autoritären Staatsführung eine Verbesserung der Lebensverhältnisse.

 Am 30. Januar 1933 ernennt Generalfeldmarschall und Reichspräsident von Hindenburg Adolf Hitler zum Reichskanzler und installiert damit das Dritte Reich. In vielen Bereichen geht zunächst das Leben weiter, als wäre nichts geschehen. Eine geschickte einhämmernde Propaganda verweist auf die sichtbaren wirtschaftlichen Erfolge bei der Reduzierung der Arbeitslosenzahlen. Neue Arbeitsplätze werden geschaffen in der Autoindustrie, der Rüstungsindustrie und beim Autobahnbau. Stolz ist man auf soziale Einrichtungen wie Urlaubsreisen mit „Kraft durch Freude“, das Winterhilfswerk, oder die Müttergenesungsheime.

Mit der glanzvoll inszenierten Olympiade 1936 begeistert Hitler die ganze Welt und erhält immer mehr Zustimmung von der Nation. Wohl die wenigsten Menschen ahnen, daß alle Maßnahmen etwa ab 1936 der Vorbereitung eines Eroberungskrieges dienen. Das Rheinland wird besetzt, Österreich angeschlossen, mit der Besetzung der Tschechoslowakei wird das Protektorat Böhmen und Mähren geschaffen. Die allgemeine Wehrpflicht wird eingeführt. Das antidemokratische Führerprinzip, Rassismus und Judenverfolgung, Nationalismus und Marxistenhaß, sowie ein von Hitler geschürter Eroberungsgeist bestimmen die wahren Ziele der „Bewegung“ und führen mit dem Einmarsch in Polen zum 2.Weltkrieg von 1939-1945.

Die anfangs von den deutschen Truppen an allen Fronten erfolgreich geführten „Blitzkriege“ enden nach der entscheidenden Winterschlacht bei Stalingrad im Osten und der Invasion der Alliierten an der 2. Front im Westen mit der katastrophalen Niederlage für Deutschland. Hitler tritt im April 1945 durch Selbstmord von der Bühne ab. 1944 war ein Attentat von Widerstandskämpfern auf ihn gescheitert. Deutsche Generäle unterzeichnen im Mai 1945 die bedingungslose Kapitulation.

Zuvor trafen Roosevelt, Stalin und Churchill in Jalta zusammen, um sich über die europäische Nachkriegsordnung und die Behandlung Deutschlands nach dem Krieg zu verständigen. Sie beschließen die Abtretung Ostpolens an Rußland und die Unterstellung großer Teile des Deutschen Reiches östlich der Oder und Neisse unter polnische Verwaltung bis zu einem endgültigen Friedensvertrag. Die Gebietsverluste sind mit einer erbarmungslosen Vertreibung der Bevölkerung verbunden. Auch für unsere Familie bedeutet das den Verlust der Heimat und des Besitzes. Das restliche Deutschland wird in vier Besatzungszonen aufgeteilt. Die Kriegsverbrecher werden abgeurteilt, die UNO wird gegründet.

1946/47 wird zwischen den USA und der Sowjetunion im Zeichen des „Kalten Krieges“ ein ideologischer und machtpolitischer Kampf geführt, der für Deutschland die Teilung in zwei deutsche Staaten mit sich bringt. Es entsteht die westlich orientierte Bundesrepublik Deutschland, BRD, und die vom Osten beherrschte Deutsche Demokratische Republik, DDR. Sie unterscheiden sich wesentlich in politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Auffassung. In der „Westzone“ wählt der erste Deutsche Bundestag nach der Verkündigung des Grundgesetzes im September 1949 Theodor Heuß, FDP, zum 1. Bundespräsidenten und Konrad Adenauer, CDU, zum 1. Bundeskanzler. In seiner Ära gewinnt die Bundesrepublik ihre volle Souveränität wieder und kann sich zu einem Muster an Stabilität entwickeln. Schrittweise erreicht Adenauer sein Ziel der Westintegration durch den Beitritt zur NATO, dem westlichen Verteidigungsbündnis, die Beendigung der Besatzungsregime und den Aufbau der Bundeswehr. Mit einem Freundschaftsvertrag besiegeln Adenauer und de Gaulle die deutsch-französische Aussöhnung. Als Antwort auf die Entwicklungen im Westen gründet die Sowjetunion 1955 den Warschauer Pakt, in den auch die DDR aufgenommen wird.

Im Gegensatz zur DDR erlebt die Bundesrepublik im Zusammenhang mit der politischen Normalisierung in den 50er bis in die 60er Jahre hinein einen ungeahnten wirtschaftlichen Aufschwung. Grundlage dafür bilden nach der Entmilitarisierung und Entnazifizierung der von den Amerikanern und Engländern als Hilfsprogramm für Europa initiierte Marshallplan im Jahre 1947 und die Währungsreform 1948 mit einer Abwertung der Reichsmark von 10:1 und einem Kopfgeld von 40 DM für jeden Bürger.

Besonders begünstigt wird der Nachkriegsboom durch den Wiederaufbau der zerstörten Städte. Dadurch werden gesunde Wohn -und Arbeitsverhältnisse geschaffen. Die Bundesrepublik steigt in kurzer Zeit zum drittgrößten Industriestaat der Welt auf. Das Ausland spricht vom „deutschen Wirtschaftswunder“, das nicht zuletzt auf Ludwig Erhards Konzept der sozialen Marktwirtschaft beruht und zu den Anfängen der Wohlstandsgesellschaft führt. Innenpolitisch zählen zu den vordringlichsten Aufgaben die Versorgung der Kriegsopfer, die Eingliederung der 10 Millionen Vertriebenen und Flüchtlinge, die Beseitigung der Wohnungsnot und verschiedene Sozialreformen.

Die erfolgreiche Ara Adenauers geht 1963 zu ende. Der nachfolgende Kanzler Ludwig Erhard kann sich noch auf die bürgerliche Koalition von CDU/CSU mit der FDP stützen. Seine Regierungszeit bezeichnet er selbst als Ende der Nachkriegszeit. Die SPD als zweite Volkspartei gewinnt an politischem Einfluß. Sie geht 1966 mit der CDU/CSU unter dem Kanzler Kiesinger eine Koalition zur Bewältigung der anstehenden Probleme wie Rezession, Stagnation und Arbeitslosigkeit ein. In diese Zeit fällt auch die 68er Protestbewegung der Jugend, vor allem der Studenten. Sie verlangen eine Veränderung und Demokratisierung aller Lebensbereiche. Die Bewegung scheitert an der Uneinheitlichkeit der Ziele, hinterlässt aber eine weiterwirkende Bedeutung.

Bei Zunahme der Differenzen zwischen den beiden großen Parteien löst sich die SPD von der CDU/CSU und bildet mit der FDP eine sozial-liberale Koalition. Willi Brandt wird der erste sozialdemokratische Bundeskanzler.

Im Verhältnis der beiden Supermächte hat sich inzwischen ein deutlicher Wandel vollzogen. Der kalte Krieg wird durch eine Phase der Entspannung abgelöst. Sie wirkt sich auch auf die Politik der Bundesregierung aus. In dieser Situation schwenkt Brandt auf eine neue Ostpolitik ein. Sie führt zu einer Normalisierung der Beziehung zur DDR und den Staaten des Ostblocks, die sich 1970 in den Ostverträgen manifestiert. Im Grundlagenvertrag nehmen die beiden deutschen Staaten gleichberechtigte Beziehungen zueinander auf und ermöglichen damit 1973 den Beitritt der BRD und der DDR zur UNO. Innenpolitisch nutzt die sozialliberale Koalition die günstige wirtschaftliche Lage am Anfang der 70er Jahre zum Ausbau der sozialen Einrichtungen in nahezu allen Bereichen der Gesellschaft, so auch beim Mitbestimmungsrecht der Arbeitnehmer. Innerparteiliche Spannungen und eine Spionageaffäre führen 1974 zum Rücktritt von Willi Brandt. Der Pragmatiker Helmut Schmidt übernimmt die Regierung. Er nutzt den durch Brandts Ostpolitik erweiterten außenpolitischen Handlungsspielraum und erreicht in der durch weltwirtschaftliche Probleme geprägten internationalen Politik eine einflussreiche Rolle. Dagegen steht die Innenpolitik vor größeren Problemen. Neben dem Terrorismus, der zeitweilig die westlichen Demokratien unter Druck setzt, fühlt sich die Bevölkerung von einer zunehmenden Umweltzerstörung, den Risiken der Kernenergie und den atomaren Rüstungen der Supermächte bedroht; alles Folgen der einschneidenden technologischen Veränderungen. Auffassungsunterschiede zwischen FDP und SPD bei den grundlegenden aktuellen Fragen lassen die Koalition platzen. Nach 25-jähriger Regierungszeit der SPD übernimmt 1982 die CDU/CSU wieder mit der FDP die Führung. Mit der Wahl von Helmut Kohl zum Bundeskanzler beginnt seine Ära, die bis heute mit allen Höhen und Tiefen in Politik und Wirtschaft anhält.

In den achtziger und neunziger Jahren dieses Jahrhunderts vollzieht sich mit dem Zusammenbruch des Kommunismus und dem Wechsel in der sowjetischen Führungsspitze unter Michail Gorbatschow ein gewaltiger politischer Umbruch in Osteuropa. Er bedeutet das Ende der bipolaren Weltordnung mit dem Gegensatz der Supermächte, für Deutschland das Ende der Zweistaatlichkeit. Deutschland erreicht nach 40 Jahren der Teilung mit friedlichen Demonstrationen von Hunderttausenden vom SED-Regime unterdrückten Menschen erst die Öffnung der Berliner Mauer und am 30. Oktober 1990 die Wiedervereinigung der Bundesrepublik. Alle Parteien im Bundestag streben mit den Nachbarländern die Europäische Gemeinschaft an mit einem gemeinsamen Markt und einer gemeinsamen Wirtschafts und Währungsunion. Das 20.Jahrhundert begann in Deutschland mit einem Kaiserreich. Es endet mit einer stabilen Demokratie, die sich zur Wende ins 21.Jahrhundert großen Herausforderungen stellen muß.

Die Errungenschaften der Technik verändern das Leben der Menschen in einem rasanten Tempo. Maschinen ersetzen zu einem großen Teil die schwere körperliche Arbeit, Computer vereinfachen die geistige Arbeit, die Mondlandung wird möglich, raffiniert erdachte Flugkörper umkreisen unseren Planeten und erforschen das Weltall, Satelliten vermitteln Nachrichten rund um unseren Globus und ermöglichen Direktinformationen rund um die Welt. Flugzeuge verbinden Erdteile und Länder miteinander in wenigen Stunden.

Kultur und Kunst verlieren ihre Exklusivität. Das Theater für Wenige wird vom Kino für Viele und schließlich vom Fernsehen für alle abgelöst. Die Werke der berühmten Künstler aus allen Galerien der Welt können an den Bildschirmen bewundert werden. Bücher werden in Millionenauflagen und für jeden erschwinglich gedruckt und Musik in bester Tonqualität auf Platten, Bändern und Disketten vervielfältigt. In der Gesellschaft setzt sich die Gleichberechtigung der Frau durch.

Dieser gewaltige Bogen umspannt meinen Rückblick von der Kindheit bis heute. Welche Perspektiven ergeben sich aus dieser rasanten Entwicklung für unsere Zukunft, insbesondere nach der Entfesselung der Atomkraft?