Wydanie/Ausgabe 131/04.04.2024

Striegau, den 29. Januar 1945

Liebe Mutter

Ich schreibe Dir nun von hier und hoffe, daß Dich dieser Brief trotz allem, was jetzt geschieht, noch erreicht. Ich liege hier in einem Behelfskrankenhaus auf dem Flur und muss morgen weiter, weil alles überfüllt ist und die Russen auch hierhin kommen. Ich will dann sehen, ob ich bis zu Euch kommen kann. Bitte, erschrick nicht, liebe Mutter, aber ich bringe Gabi nicht mit, und ich habe einen erfrorenen Arm. Ich hätte sonst Gabi vielleicht noch weiter getragen. Aber sie hätte auch hier keinen Sarg bekommen, denn Särge gibt es ja kaum noch, und sie wäre auch hier nur schnell begraben worden.

Ich konnte sie nicht mehr weit tragen, als sie tot war. Ich konnte es nicht mehr aushalten und habe sie gut eingewickelt und an der Straße hinter Kant tief in den Schnee gelegt. Da war Gabi nicht allein, denn mit mir waren ein paar tausend Frauen mit ihren Kindern unterwegs, und sie legten auch die Gestorbenen in den Graben, weil dort bestimmt keine Wagen und keine Autos fahren und ihnen noch ein Leid antun können.

Gabi war auf einmal tot. Ich hatte sie bestimmt gut eingewickelt in zwei Decken. Aber sie war ja erst vier Monate alt, und Kinder von zwei und drei Jahren sind unterwegs gestorben.

Es war so schrecklich kalt und es stürmte so eisig, und es fiel Schnee und es gab nichts Warmes, keine Milch und nichts. Ich habe noch versucht, Gabi hinter einem Haus die Brust zu geben, aber sie nahm sie nicht, weil alles so kalt war. Das haben viele Frauen versucht, und manche haben sich die Brüste erfroren. Das muss ganz furchtbar sein, und es eitert. Viele haben sich auch eine Lungenentzündung geholt. Ein paar liegen hier und phantasieren von Breslau und von den Männern und den Kindern. Hier liegt eine Frau aus der Brandenburger Straße. Die hat alle drei Kinder verlor.

Es war schlimm und ich möchte nicht noch einmal in meinem Leben diesen Weg gehen. Wir sind am 20. Januar am Nachmittag, als es schon fast dunkel war, aufgebrochen. In der Nacht vorher musste Rudolf ganz plötzlich weg. Sie holten mitten in der Nacht alle Männer zum Volkssturm. Aber ich habe ihm noch versprechen müssen, mit Gabi zu Euch zu fahren und nicht in Breslau zu bleiben wegen der Russen und allem, was sie uns Frauen antun. Er sagte, er wird nie darüber hinwegkommen, wenn mir so etwas geschieht.

Sonst wäre ich vielleicht nicht aus Breslau weggegangen, als es nachmittags hieß, alle Frauen mit Kindern sollen sofort zu Fuß aus der Stadt marschieren. Es gibt keine andere Rettung mehr. Es war um drei Uhr nachmittags, und der Himmel war grau. Ich hatte keinen Schlitten und konnte mir auch keinen leihen, weil alle ihre Schlitten selber brauchten.

So habe ich nur Gabi genommen und die Decken und einen Rucksack und die nötigsten Sachen für uns und Trockenmilch und die Flasche, weil ich dachte, irgendwo könnte ich sie schon warm machen. Denn ich dachte, die NSV hätte gesorgt und würde uns nicht ganz so hilflos ziehen lassen. Als wir auf die Straße kamen, gingen schon überall Frauen mit Schlitten und Kinderwagen, und es war schlimm, dass wir keinen Kinderwagen mehr bekommen hatten. Aber viele haben später die Wagen  zurücklassen müssen, weil sie damit nicht durch den Schnee kamen.

Es wurden immer mehr Frauen, die unterwegs in die Vorstädte im Westen waren. Wir schlössen uns hier und da zusammen, weil wir uns vielleicht gegenseitig helfen konnten und die eine Trost bei der anderen suchte. Es war dann schon dunkel. Aber es fuhren immer noch Autos von der Partei mit Lautsprechern herum. Sie riefen noch, dass die Frauen die Stadt verlassen sollten. Es war unheimlich und traurig. Wir hatten Angst, und viele Kinder weinten. Gabi war ganz still. Wir sind dann durch die Grabschender Vorstadt gelaufen auf die Straße nach Kanth. Viele Frauen fielen hier auf dem glatten Schnee und blieben zurück. Auf der Landstraße lag der Schnee manchmal hoch. Und man sah nur Frauen und Kinder und Autos, die vorbeikamen. Manche hielten an und nahmen Frauen mit. Aber ich hatte nicht das Glück.

Es fing bald wieder an zu schneien. Und die Frauen, die ihre Kinder im Arm trugen und außerdem noch Betten und kleine Koffer bei sich hatten, fingen an, Gepäck wegzuwerfen, weil sie es nicht mehr tragen konnten. Auch mein Arm hat da schon angefangen mit dem Frost. So sind wir viele Stunden bis Kanth gelaufen. Oft ganz langsam und Schritt für Schritt. Und da lagen die ersten toten Kinder in den Gräben und auf dem Marktplatz in dem Ort. Und vor vielen Häusern saßen Frauen mitten im Schnee, die sich ausruhen wollten.

Ich habe auch an ein paar Häuser geklopft, weil ich dachte, ich würde jemand finden, der mich Milch für Gabi heiß machen lässt. Aber ich hatte kein Glück. Ein paar Frauen hatten Glück. Bei mir blieb alles dunkel, und es rührte sich niemand. Da habe ich auch einen Augenblick im Schnee gesessen. Dabei konnte ich sehen, wieviel Frauen unterwegs waren. Es waren viele, viele Tausend, und der Zug nahm kein Ende.

Sie ließen immer mehr Sachen zurück, weil sie sonst nicht mehr weiter konnten. Nach einer halben Stunde bin ich dann weiter gegangen bis zum nächsten Ort. Da habe ich wieder versucht, in ein Haus zu kommen. Aber nur die Hunde kläfften. So ging es immer weiter. Und ich habe die Bäume an der Chaussee gezählt und mich von Baum zum Baum geschleppt.

Weggeworfene Sachen lagen jetzt einfach mitten auf der Straße. Und Frauen saßen auf ihrem Schlitten und wollten sich ausruhen. Aber die Kälte trieb sie immer weiter, bis auf die, die einfach sitzen blieben und vielleicht mit ihren Kindern erfroren sind. Ich habe viele gesehen, die dasaßen mit dem Rücken an einem Baum, und manchmal standen größere Kinder daneben und weinten. Mutterliebe ist sicher die größte Liebe. Aber wie groß alle Liebe sein mag, wir sind doch nur schwache Geschöpfe.
Als es anfing, hell zu werden, waren wir schon nahe bei Kanth. Gabi hatte jetzt ein paar Stunden geweint, aber was sollte ich denn tun? Ich bin noch in ein paar Dörfern gewesen. Wir haben geklopft und geklopft und geschrien. Wieder sind welche von uns eingelassen worden. Viele Frauen haben vor Wut mit Schneebällen die Fenster eingeworfen. Aber das half uns nichts. Die Strafe werden sie für ihre Hartherzigkeit noch bekommen.

Dann habe ich versucht, Gabi die Brust zu geben. Aber sie nahm sie nicht. Und die Milch in der Flasche war wie Eis, obwohl ich sie in der Decke fest an mich gedrückt hatte. Ich habe vor Elend immer vor mich hin geweint, und ein paarmal war ich auch so weit, dass ich mich am liebsten einfach in den Schnee gelegt hätte, um zu sterben. Aber dann habe ich an Rudolf gedacht und an Euch. Und mein Arm wurde immer steifer und ohne Halt. So wurde es heller und heller. Und ich sah wieder tote Kinder. Vielleicht haben manche sogar lebende Kinder zurückgelassen, um sich zu retten.

Wir alle torkelten ja nur so dahin. Es wehte immer noch ganz kalt, und meine Füße fühlte ich überhaupt nicht mehr. Da kam ich zu einem Dominium, und da wohnten endlich Menschen, denn sie hatten alle Räume aufgemacht, und wenigstens ein Teil von uns konnte sich wärmen, und es wurde Milch gekocht für die Kinder. Aber als ich Gabi auspackte und mich freute, dass ich ihr nun etwas zu trinken geben konnte, da war sie ganz still, und die Frau neben mir sagte, ‘die ist ja tot’.


Ich weiß nicht, was ich noch schreiben soll, liebe Mutter, aber es ist jetzt alles so anders, wie es früher einmal war, auch mit dem Traurigsein. Ich konnte über Gabi nicht mehr weinen. Aber ich wollte sie auch nicht zurücklassen. Ich bin mir ihr losgelaufen. Man tut so viel Unsinn in solchen Augenblicken. Mein Arm wollte dann nicht mehr. Ich habe es mit dem anderen Arm versucht. Aber mit dem ging es dann auch nicht mehr. Und da ist es dann geschehen. Ich bin noch zu Fuß bis Kanth gelaufen. Und da habe ich dann endlich ein Auto gefunden und ein paar Soldaten, die Mitleid hatten. Manche Frauen, die hier liegen, sind bis hierher gelaufen.
Seid mir nicht bös, liebe Mutter, wegen Gabi, sondern denkt, ihr wärt so über die Straße gezogen und durch den Schnee. Vielleicht versteht Ihr es, und vielleicht versteht Rudolf es auch, wenn er noch einmal aus Breslau herauskommt und wir uns noch einmal wiedersehen.

Quelle: https://heerlagerderheiligen.wordpress.com/2015/05/08/brief-einer-breslauer-frau/