Wydanie/Ausgabe 131/04.04.2024

Nachdem der Kommandeur der Selbstschutzgruppe Süd, Generalleutnant von Hülsen, den Angriff seiner Verbände über die Oder in Richtung Annaberg beschlossen und für den 21. Mai befohlen hatte, fuhr unser Bataillons-Führer Major Siebringhaus mit seinen Offizieren in einem uralten Vehikel zur Geländeerkundung in den bisher vom Bataillon Heinz und der Freiwilligen-Kompanie von Eicken gehal­tenen Brückenkopf Ottmuth. Kaum daß wir unsere Köpfe zum Blick in das Vorge­lände über eine Parkmauer gesteckt hatten, erhielten wir auch schon aus Richtung Go­golin und den Kalkwerken Gewehr- und MG-Feuer, daß uns die Kugeln nur so um die Ohren summten. Der Pole war stark und wachsam.

Nachdem die Bereitstellungsräume und die Angriffsstreifen für die Kompanien festgelegt waren, ging es bei einbrechen­der Dunkelheit zurück nach Krappitz. Im Schloß beim Stab der Gruppe Süd gab es die letzten, endgültigen Befehle: Am 21. Mai, 2.30 Uhr früh wird angegriffen.

Angriffsziel: Der Annaberg! Nüchtern betrachtet muß dieser Angriff von sieben Bataillonen ohne alle schweren Inf.-Waffen, ohne jede Artillerie, gegen einen vierfach überlegenen Feind in ausgebauten Stellungen, von jedem Generalstab als glatter Wahn­sinn bezeichnet werden. Er mußte einfach unter schweren Verlusten scheitern.

Eine Stunde nach Mitternacht rückte Oberland in größter Stille von Krappitz ab über die Oder in die Ausgangsstellung für den Angriff. Unser Quartierwirt, ein Malermeister, gab uns auf unsere Bitte die schwarz-weiß-rote Fahne mit, die zu unse­rer Begrüßung vom Giebel seines Hauses geweht hatte. Niemand konnte ahnen, zu welch hohen Ehren dieses schlichte Feld­zeichen nach weitem Weg einmal kommen sollte: Vom Annaberg in meine schlesi­sche Heimat, hier in meine Garnisonsstadt Liegnitz der Königsgrenadiere und von hier über den Verband der Freikorpskämpfer nach München in das Braune Haus.

Nun ein Blick auf die Angriffsgliede­rung: Rechts, d.h. südwestlich der Bahn­linie Gogolin-Kandrzin: Angriffskolonne Chappuis mit den Bataillon Lensch, von Winkler, Bergerhoff (dabei die „Schwarze Schar“, Berlin), in Reserve: Bataillon von Watzdorf.

Aus südwestlicher Richtung schallte lau­ter Kampflärm zu uns herüber. Hier wurde von der I. Sturmfahne erbittert um das von den Polen befestigte Vorwerk Strebinow gekämpft. Auch die drei Angriffsbataillo­ne der Gruppe Chappuis lagen in starkem Abwehrfeuer der Polen vor Oderwitz und der Wygoda-Höhe fest. Überall machte sich das gänzliche Fehlen von schweren Inf.-Waffen (MGs, Granatwerfer, Inf.-Ge- schütze) auf deutscher Seite bemerkbar. Ich stieß daher mit meiner Kompanie immer längs der Chaussee zunächst nur bis an den Ostrand des Waldes westlich Dombrowka vor. Nach kurzem Feuergefecht suchte der Pole auch hier unter Zurücklassen von Ver­wundeten und Waffen das Weite.

Inzwischen hatte die I. Sturmfahne, wie ich feststellen konnte, die Vorwerke Stre­binow und Neuhof genommen und war im Vorgehen in Richtung auf Sakrau. Meine nach Dombrowka vorgesandte Aufklärung meldete diesen Ort feindfrei. Als ich dann noch mit dem Fernglas die Schützenlinie des Bataillons Heinz im Norden bei ih­rem Vorgehen gegen den Sprentschützer Berg beobachten konnte, entschloß ich mich, Nieder-Ellguth anzugreifen. Ich trat mit der entfalteten Kompanie - vorn eine Gruppe als Sicherung, dann hintereinan der die drei Züge - in dem leicht bedeckten Gelände links (d.h. nördlich) der Chaussee nach Ellguth an. In der Höhe von Punkt 229 erhielt die Kompanie auf einmal vom Steinberg her schweres MG-Feuer, das aber wie in den Morgenstunden bei Gogolin - so schlecht gezielt war, daß es zwar die oberen Äste der Bäume zerfetzte, der Kom­panie aber keine Verluste zufügte und ihr Vorgehen in keiner Weise aufhalten konnte. Meine Spitzengruppe war auf 1.000 m an die ersten Häuser von Nieder-Ellguth her­angekommen, als - wir glaubten unseren Augen nicht zu trauen - ein polnischer Ge­genangriff in breiter Front und in mehreren Wellen vom Ellguther Steinberg herab mit Stoßrichtung auf die I. Sturmfahne und die Kompanie Eicken (rechts von uns) erfolgte. Der Nordflügel des polnischen Angreifers kam über Gut Ellguth und dann knapp 200 m südlich und parallel zu unserer Straße vor.

Schon spritzten meine Melder zu den Zügen mit meinen Befehlen: „Alle drei Züge gehen sofort nebeneinander im jenseitigen Straßengraben mit Front nach Süden in Stellung. Größte Ruhe und Stille! Schußverbot!“ In kürzester Zeit lag die ganze Kompanie in langer Linie, Mann an Mann, westlich von Punkt 241 schussbe­reit im tiefen Straßengraben. Erst als die vorderste Welle der Polen die gleiche Höhe mit uns erreicht hatte, da schlug auf mei­nen Befehl der vernichtende Feuerhagel der Kompanie flankierend in die polnischen Reihen, zerfetzte sie und zwang die Über­lebenden zu Boden. Ich selbst hatte mir und dem auch treffsicheren Gruppenführer der Spitze eine besondere Aufgabe und ein besonders wichtiges Ziel zugedacht.

Wir standen hinter zwei Chausscebäumen und lauerten auf die sMG-Gruppe der Polen, die ich längst mit dem Fernglas hinter der 2. Welle erkannt hatte. Als diese versuchte, das MG schußfertig zu machen und gegen die Kompanie in Stellung zu bringen, warf Schuß auf Schuß aus unseren Büchsen, die gesamte Bedienung tot oder verwun­det über das MG, bevor noch ein einziger Schuß den Lauf verlassen hatte. Da stürm­ten plötzlich Leutnant Buhl und ein paar ehemalige alte MG-Leute mit den Rufen: „Wir müssen das sMG haben!“, los, und wie eine wilde Jagd brauste auf einmal die ganze Kompanie mit wildem Gebrüll ge­gen den Feind und machte „ganze Arbeit“. Nur kümmerliche Reste des polnischen Gegenangriffes sah man von uns aus nach und über den Steinberg zurückfliehen. Mit entscheidend für diese schwere Niederlage war die fehlende Aufklärung von Seiten der polnischen Führung, die gar nicht gemerkt hatte, daß in ihrer tiefen, westlichen Flanke schon eine ganze deutsche Einheit - meine Kompanie - stand. Mit welcher Erbitterung meine Leute hier im Nahkampf gegen die Insurgenten gekämpft hatten, bewiesen die zersplitterten und zum Teil abgeschlagenen Kolben ihrer Gewehre. Das hätte mir als Kompanie-Führer am morgen dieses Angriffstages noch großen Kummer bereitet, aber jetzt gab es bei uns keinen Mangel mehr, weder an Waffen noch an Munition: jeder Mann hatte ein gutes Gewehr 98 und alle Taschen voll mit Munition. Unbändig aber war die Freude bei Leutnant Buhl und dem Richtschützen Wisgott: sie hatten wie­der ein deutsches sMG (Stempel „Waffen­fabrik Danzig 1918“) mit Zielfernrohr und acht volle Kästen mit gegurteter Munition - das war unsere schönste Beute.

Nun ging es mit frischem Mut weiter, und während wir kampflos das Dorf Nieder-Ellguth besetzen konnten, hatte unser linker Nachbar Bataillon Heinz inzwi­schen Sprentschütz genommen. Auf dem Vormarsch Richtung Niewke hatte ich ein Erlebnis, das mir der Schilderung wert er­scheint, weil es den Kampfgeist der Trup­pe, gerade auch der jüngsten Freiwilligen, beweist. Mir fiel ein Mann auf, der ein Gewehr am Riemen über seiner Schulter hängen hatte, das nur noch aus dem Lauf und dem Schloß bestand. Auf meine Fra­ge, warum er sich denn vor einer Stunde nicht ein anderes Gewehr genommen hat­te, sagte er, das hätte ja doch keinen Zweck gehabt, weil er ja gar nicht damit umgehen könne. Da er im I. Zug gewesen sei, der mit Gewehren ausgerüstet war, hatte ihm ein alter Soldat vor dem Sturm auf die Kalk­werke das Gewehr geladen und gesichert übergeben, er hatte aber keinen Schuß ab­geben können, da er die „Sicherung“ nicht kannte. Da habe er eben beim Nahkampf vorhin mit dem Kolben zugeschlagen, bis dieser beim zweiten Polen zersplittert und beim dritten gänzlich abgebrochen sei. Es war mein jüngster Freiwilliger, gerade erst 17 Jahre, und wußte nicht, daß er wie ein Held gekämpft hatte.

Bereits um 9 Uhr, fast gleichzeitig mit uns auch die 2. Kompanie, erreichten wir das Dorf Niewke, das Tagesziel der III. Sturmfahne. Hier wurden Sicherungen aufgestellt, Patrouillen in Richtung Kalinow vorgetrieben und der Truppe die wirk­lich ehrlich verdiente Rast und Verpflegung gegönnt. Durch den bald nachgerückten Bataillons-Stab hörten wir endlich etwas über die Gesamtlage an der Angriffsfront. Das allmähliche Vorkommen der I. und II. Sturmfahne hatte auf die Widerstandskraft der polnischen Verteidigung südwestlich der Bahn, die sich durch Oberland in ihrer Westflanke mit Recht gefährdet sah, stark eingewirkt. Das Bataillon Bergerhoff hat­te die hart umkämpfte Wygoda-Höhe und sein rechter Nachbar das Dorf Oberwitz genommen. Durch den Fall dieser beiden Bastionen war nunmehr auch hier auf dem rechten Angriffsflügel die polnische Front erschüttert und wankte in allen Fugen. Die Kolonne Chappuis stieß hinter dem wei­chenden Gegner bis zum Krempaer Wald. Hier an der Bahnlinie gab ein moderner, polnischer Panzerzug, zu dessen wirksa­mer Bekämpfung den deutschen Einheiten alle nötigen schweren Waffen fehlten, dem Bataillon Bergerhoff eine schwere Nuß zu knacken und fügte bei seinem ersten überraschenden Erscheinen besonders ei­ner Kompanie („Berliner Schwarze Schar“) schmerzliche Verluste zu.

  • Die II. Sturmfahne Oberland hatte das Dorf Jeschona genommen und war jetzt im Angriff gegen das von den Polen ver­bissen verteidigte Oleschka. Die I. Sturm­fahne, die nach der Einnahme von Sakrau auch die ersten zwei Geschütze (deutsche Feldkanonen) erbeutet hatte, und mit ihr die Kompanie von Eicken waren inzwi­schen in den Westrand des großen „Wyssokaer Waldes“ eingedrungen. Da das Ba­taillon Heinz nach Süden eingedreht hatte und seine vorderste Einheit schon ganz in unserer Nähe bei Niewke erschienen war, machte ich unserem Kommandeur Major Siebringhaus den Vorschlag, doch Wyssoka anzugreifen und damit in die tiefe Flanke der polnischen Annaberg-Stellung vorzustoßen. Nach kurzem Bedenken stimmte er meinem Vorschlag zu.

    Inzwischen war Leutnant Buhl nicht untätig geblieben. Er hatte im Dorf ein stra­pazierfähiges Bauernfahrzeug mit Gespann „requiriert“ und auf diesem mit Bohlen und Brettern das sMG so geschickt montiert, daß man mit ihm notfalls auch vom Wagen über die Köpfe der Pferde hinweg schießen^ konnte. Das erste „MG-Kampffahrzeug“ war damit geschaffen worden, das sich in den nächsten Stunden noch glänzend bewähren sollte.

    Kurz nach 10 Uhr trat die III. Sturmfahne mit meiner Kompanie an der Spit­ze auf dem Feldwege nach Wyssoka ihren Vormarsch nach Süden an. Bereits in Höhe des nach Ober-Ellguth abzweigenden We­ges erhielt das Bataillon starkes MG-Feuer aus Richtung Wyssoka, das zur Entfaltung zwang. Die 2. Kompanie wurde westlich, die 1. Kompanie ostwärts der Straße einge­setzt. Das sMG der Kompanie ging unter Führung von Leutnant Buhl an der Stra­ße in Stellung und nahm auf ca. 1.500 m Entfernung den Feuerkampf mit zwei pol­nischen MGs, die am Rande des Schloß parkes von Wyssoka und auf der Anhöhe westlich davon erkannt worden waren, auf. In flottem Vorgehen erreichte meine Kom­panie dank des vorzüglich liegenden Feuers des Buhlschen MGs das Gehölz an Höhe 330 und eröffnete von hier aus ebenfalls das Feuer auf den Feind, dessen Widerstand sich merklich versteift hatte. Inzwischen hatte die 2. Kompanie weiter ostwärts des von Kalinow kommenden Weges den Niederhof von Wyssoka angegriffen. Das weitere Vor­kommen meiner Kompanie gewann unter Verlusten nur schrittweise Boden, trotzdem die beiden polnischen MGs am Dorfrand von dem nachgerückten sMG-Buhl regel­recht niedergekämpft worden waren. Ich habe mir, nachdem wir den Ort genommen hatten, die MG-Nester am Dorfrand angesehen: In dem einen lagen drei, in dem an­deren zwei von mehreren Kugeln zerfetzten MG-Schützen.

    Als ich beobachten konnte, wie Teile der Kompanie von Eicken, meinem rechten Nachbar, am Ostrand des großen Wyssokaer Waldes erschienen und in den Kampf eingriffen, reifte auch hier eine schnel­le Entscheidung heran. Ich trat sofort mit der ganzen Kompanie zum Sturm an. Mit „Hurra“ wurden die ersten polnischen Wi­derstandsnester überrannt, und mit den flie­henden Polen zugleich drang meine Kom­panie in Dorf und Domäne Wyssoka ein. Hier wurden die Reste der polnischen Ver­teidigung völlig aufgerieben, da fast gleich­zeitig der 2. Kompanie der Einbruch von Norden her geglückt war. Da stand ich nun plötzlich vor einem Wegweiser nach „Annaberg“ 3 km und blickte fasziniert empor zum Gipfel des heiligen Berges mit seiner mächtigen Wallfahrtskirche. Das war doch meine große Chance, vor der I. Sturmfahne den Annaberg, das Angriffsziel des Tages, zu nehmen! Da gab es kein großes Überlegen mehr - hier mußte schnell und entschlossen gehandelt werden. Ohne den Bataillon-Kommandeur abzuwarten oder zu verständigen, entschloß ich mich zum Angriff auf Annaberg. Während ich noch mit dem Ordnen der stark durcheinander­geratenen Züge beschäftigt war, kam auch schon Leutnant Buhl mit seinem wieder auf dem Kastenwagen verladenen sMG auf der Dorfstraße angefahren.

    Angriffsgliederung: An der Spitze der MG-Wagen, gesichert von Gruppen des 1. Zuges, 2. und 3. Zug links und rechts rückwärts gestaffelt beiderseits der Stra­ße. Mit lautem Jubel hatten wir gerade die ersten Häuser von Annaberg erreicht, als eine polnische Abteilung — wahrscheinlich vorgeholte Verstärkung - von Poremba aus den Berghang heraufgestiegen kam. Unser Schnellfeuer aus Gärten und Hecken faßte sie ganz überraschend und ließ sie in wilder Flucht wieder den Berg hinunter stieben. Es war gegen 11.30 Uhr, als meine Kom­panie den hochgelegenen Marktplatz von Annaberg erreichte. Ich stellte sofort an den nach Poremba, Leschnitz und dem Kuhtal führende Straßen starke Sicherungen aus und schickte Unteroffizier Rieschnik in das Kloster mit dem Befehl, unsere Kom­paniefahne, die uns seit dem Abmarsch von Krappitz voran geweht hatte, auf dem Turm der Klosterkirche zu hissen. Die Mönche haben sofort Portal und Türen geöffnet, so daß Rieschnik ohne jede Schwierigkeiten seinen Auftrag ausführen konnte. Brau­sende Heilrufe meiner Männer und der herbeigeeilten Bevölkerung begrüßten die schwarz-weiß-rote Fahne. Und wohl nie hörte man das Deutschlandlied mit größe­rer Inbrunst und Begeisterung singen als an jenem denkwürdigen 21. Mai 1921 auf dem Marktplatz von Annaberg.

    Der kühne Angriff der Gruppe Süd des oberschlesischen Selbstschutzes hatte seinen größten Erfolg erzielt: Bei ihrem Angriff aus dem nur 5 km breiten Krappitzer Brückenkopf hatten die deutschen Freiwilligen gegen einen zahlenmäßig weit überlegenen Feind die polnische Front in einer Breite von 25 km und einer Tiefe von reichlich 15 km zerschlagen. Der Pole hatte bei den erbitterten Kämpfen schwer­ste Verluste erlitten, sechs Geschütze und zahlreiche Maschinengewehre waren er­beutet worden. 28 Ortschaften waren vom polnischen Terror befreit worden, und der „heilige Berg von Oberschlesien“ war fest in deutscher Hand. Es war ein großer Sieg des deutschen Soldatentums, und ich bin heute - 65 Jahre später - noch stolz darauf, daß ich mit meiner tapferen Kompanie einen entscheidenden Anteil an diesem Sieg bei Annaberg haben durfte.