Wydanie/Ausgabe 131/04.04.2024

Ein am 31. März 1938 vom polnischen Parlament verabschiedetes Gesetz sah vor, allen polnischen Staatsbürgern, die länger als fünf Jahre ununterbrochen im Ausland lebten, die Staatsbürgerschaft zu entziehen, da jene, so wurde argumentiert, ihre Verbindung zur polnischen Nation verloren hätten. Das betraf im Deutschen Reich und in Österreich schätzungsweise 70.000 polnische Juden. Mit einem Erlaß von Anfang Oktober 1938 sollte das genannte Gesetz umgesetzt werden. Die polnische Regierung wollte mit allen Mitteln einer Massenausweisung aus dem Deutschen Reich zuvorkommen und forderte nun jeden polnischen Bürger im Ausland auf, sich bei dem für ihn zuständigen Konsulat zu melden, um seinen Pass mit einem Kontrollvermerk versehen zu lassen. Tat er das nicht, sollte der polnische Pass am 30. Oktober 1938 ungültig werden und sein somit staatenlos gewordener Besitzer die Berechtigung zur Einreise nach Polen verlieren. In Deutschland war es für Ausländer strafbar, keinen Pass zu besitzen.

Der polnische Staat verweigerte Juden häufiger einen Paß oder erpresste sie bei der Antragstellung. In den vorangehenden zwei Jahrzehnten gab es immer wieder vereinzelte Fälle von Ausweisung polnischer Juden aus Deutschland. Polen lehnte aber immer häufiger die Aufnahme dieser Menschen ab. Beide Seiten, Deutschland und auch Polen, versuchten im Jahre 1938, “sich der ganzen Bevölkerungsgruppe zu entledigen”.

Mit der Annexion Österreichs am 12. März 1938 veränderte sich die Situation der im Reichsgebiet lebenden Juden entscheidend, da sie einen nachhaltigen Einfluss auf die Einwanderungspolitik vieler europäischer Staaten hatte. Nun, da Österreich nicht mehr als Zufluchtsort in Frage kommen konnte und gleichermaßen der nationalsozialistischen “Judenpolitik” unterlag, befürchteten die Nachbarstaaten des Deutschen Reiches einen noch größeren Zustrom jüdischer Emigranten, wovor sie sich durch Verschärfung der Einreisebestimmungen schützen wollten. Anders jedoch als in der Schweiz, Frankreich oder Großbritannien, richteten sich in Polen die Maßnahmen gegen eigene Staatsbürger, die sich außerhalb des Landes aufhielten.

1931 lebten 3,1 Mio. Juden in Polen, das waren 9,8 Prozent der Gesamtbevölkerung. Sie wurden wirtschaftlich und gesellschaftlich diskriminiert und fast gänzlich aus der Beamtenschaft ausgeschlossen, ab 1937 auch aus verschiedenen Berufsverbänden. An den Universitäten gab es gesetzlich keinen Numerus clausus, aber einen faktischen für Juden. Jüdische Studenten mussten während der Vorlesungen auf besonderen Bänken, Platz nehmen. Jüdische Kaufleute und Unternehmer wurden bei der Vergabe von Staatsaufträgen zurückgewiesen. Auch das Sonntagsruhegesetz trug zur weiteren Diskriminierung der Juden in Polen bei. Der jüdische Sabbat beginnt mit dem Sonnenuntergang am Freitag und endet mit dem Sonnenuntergang am Samstag. Folglich waren die Juden gezwungen, zwei Tage frei zu nehmen. Betriebe, in denen Polen und Juden arbeiteten, hatten keinen Grund mehr, Juden einzustellen. Die offizielle Politik und die Haltung des größten Teils der polnischen Gesellschaft waren antijüdisch. Die Gesellschaft in Ostpolen war traditionell überwiegend antisemitisch eingestellt. Als 1935 Marschall Józef Piłsudski starb, der die extremen Nationalisten immer in die Schranken verwiesen hatte, kamen Politiker an die Spitze, die die Juden als Fremdkörper in der polnischen Realität betrachteten.

Der polnische Botschafter in Deutschland, Lipski, wurde von Hitler zu einem Gespräch am 20. September 1938 nach Berchtesgaden eingeladen. Während des Gedankenaustauschs bemerkte der Kanzler, dass Polen ein wichtiger Partner sei, denn es schütze Europa vor Russen und dem Kommunismus. Hitler sagte noch am Ende der Unterredung: “Zur gegebenen Zeit werde ich mich mit der Judenfrage beschäftigen.” Lipski antwortete, “Wenn Sie die Solution durchführen, werden wir Ihnen ein schönes Denkmal in Warschau hinstellen.”

Mitte der dreißiger Jahre verschärfte sich die Weltwirtschaftskrise auch in Polen und als Folge verschärfte sich der Antisemitismus. Im Osten Polens kam es immer häufiger zu Übergriffen nationalistischer Gruppen auf Juden. Zwischen 1935 und 1937 wurden vermehrt jüdische Geschäfte zerstört. Es gab tätliche Angriffe, bei denen 14 Menschen zu Tode kamen. Der Premierminister Felicjan Składkowski verurteilte 1936 dieses Verhalten im Sejm. Gewalt gegen Juden wäre nicht zu tolerieren, aber man dürfe ihre Geschäfte boykottieren. Kardinal August Hlond verurteilte körperliche Gewalt gegen Juden, da es eine Sünde sei. Aber auch er sprach sich für einen Boykott der jüdischen Geschäfte aus. In einem Hirtenbrief von 1938 schrieb er: “Kauft nicht bei Juden!” Die polnische Gesellschaft nahm die Juden als Ganzes wahr, nicht als Individuen. Besonders betroffen von antisemitischen Aktionen waren “vor allem die armen, kleinbürgerlichen Schichten, die nur schlecht polnisch sprachen und zur nicht jüdischen Bevölkerung Distanz wahrten. Diese Juden blieben Fremde, stets unter dem Verdacht, Geheimnisse zu verbergen oder die Rechtsordnung zu umgehen. In den weniger gebildeten Kreisen der polnischen Gesellschaft hielten sich düstere Vorurteile auf religiöser Grundlage”.

Die polnische Regierung hatte schon seit 1936 geplant, die gesamte jüdische Minderheit zu enteignen und Entschädigungslos aus Polen zu vertreiben, gleichzeitig verfolgte sie einen Plan für Massenauswanderungen der Juden. Sie unterstützte zionistische Bewegungen in Palästina und “wünschte zum Zweck der Judenansiedlung auch Völkerbundsmandate für Kolonien”. Ebenso wurde Madagaskar als mögliches Ansiedlungsgebiet ins Auge gefasst. Unbesiedelte Teile der Insel sollten den Juden als Siedlungsgebiet zur Verfügung stehen. Dieses Konzept wurde später vom Generalgouverneur Hans Frank aufgegriffen.

Während Mitte 1938 die NS-Regierung noch darüber nachdachte, wie man die im Lande verbliebenen polnischen Juden zu Ausreise veranlassen könnte, zogen es mehrere zehntausend Juden mit polnischem Pass vor, trotz der Nürnberger Rassengesetze nach Deutschland zu ziehen, um dort zu leben. Denn im Gegensatz zu Polen bildeten direkte Übergriffe auf Juden in Deutschland immer noch die Ausnahme. In Polen hingegen wurde in den dreißiger Jahren neben der deutschen und ukrainischen besonders die jüdische Minderheit terrorisiert. Dabei wurden in Polen allein 1935/36 mehr als 1.200 Juden verletzt und einige von ihnen sogar getötet. Im Unterschied zum deutschen Antisemitismus, der von oben verordnet war und bei der Bevölkerung in allgemeinen wenig Resonanz fand, kamen der polnische Deutschenhaß und Antisemitismus aus der Bevölkerung selbst und wurde von der Regierung stillschweigend geduldet.

1937 erhielt Polen, das die Emigration der Juden vorantreiben wollte, von Frankreich die Genehmigung, eine dreiköpfige Prüfungskommission nach Madagaskar zu schicken, um Ansiedlungsmöglichkeiten für polnische Juden zu erkunden. Der Kommission gehörten Major Mieczyslaw Lepecki, Leon Alter, Direktor des Jüdischen Emigrationsverbandes (JEAS) in Warschau, und Salomon Dyk, Landwirtschaftsingenieur aus Tel Aviv an. Sie kamen zu unterschiedlichen Ergebnissen: Lepecki war der Ansicht, dass man 40.000 bis 60.000 Juden ins Hochland Ansiedeln könnte. Nach Leon Alter hätten aber nur 2.000 Menschen auf der ganzen Insel Platz gehabt. Die Schätzungen von Salomon Dyk fielen sogar noch geringer aus. Obwohl die polnische Regierung das Ergebnis von Lepecki für zu hoch einschätzte und die madagassische Bevölkerung gegen eine Einwanderungswelle demonstrierte, setzte sie die Verhandlungen mit Frankreich fort. Neben der polnischen und der französischen Regierung erwogen auch die britische Regierung und sogar das Joint Distribution Committee (JDC), Juden in Madagaskar anzusiedeln.

Anfang 1938, zehn Tage vor dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich, wurde Adolf Eichmann mit der Sammlung von Material für eine "außenpolitische Lösung der Judenfrage" beauftragt.

Der Vorschlag wurde während des Zweiten Weltkrieges von Winston Churchill erneut angesprochen, jedoch stand zu dieser Zeit bereits Palästina als künftiger Judenstaat fest.

Die Abschiebung der Juden in eine afrikanische Kolonie erschien den Nationalsozialisten aus mehreren Gründen immer plausibler: Da sie mit einem baldigen Sieg über Frankreich und Großbritannien rechneten, spekulierten sie auf die Verfügungsgewalt über die französischen Kolonien und die britische Handelsflotte. Durch die Okkupation zusätzlicher westeuropäischer Gebiete gerieten hunderttausende Juden in den deutschen Einflussbereich, und die Umsiedlung einer halben Million Juden in ein "Judenreservat" bei Lublin hatte sich inzwischen als unrealisierbar herausgestellt.

Im Herbst 1938 griff der polnische Außenminister Beck zur Selbsthilfe und ordnete an, polnischen Staatsbürgern – gemeint waren die siebzigtausend in Deutschland lebenden Juden – ab Ende Oktober 1938 die Rückkehr nach Polen zu verweigern. Das aber wurde vom NS-Regime als Provokation angesehen. Es dachte nicht daran, den dauerhaften Aufenthalt der polnischen Juden in Deutschland zu dulden. Auf Befehl Himmlers wurde die Ausreise polnischer Juden nach Polen erzwungen. Polen dagegen ließ seine Staatsbürger nicht mehr einreisen, was zu einem Flüchtlingselend im deutsch-polnischen Niemandsland führte.

Auch Józef Lipski, der polnische Botschafter in Berlin, beschrieb warum die polnischen Juden, die in Deutschland lebten, keine wirklichen polnischen Staatsbürger mehr seien. Er umreißt das Verhältnis zwischen diesen Juden und dem Staat Polen folgendermaßen:

Die Mehrheit der polnischen Juden kam schon in den Vorkriegsjahren nach Deutschland. Ihre Kinder sind also in Deutschland geboren und aufgewachsen und können daher kein Polnisch. Die Alten beherrschen zwar noch das Polnische, benutzen diese Sprache jedoch nicht mehr im täglichen Leben.”

Am 9. Oktober 1938 folgte eine Verfügung, nach der im Ausland ausgestellte Pässe ab 30. Oktober 1938 nur mit einem Prüfvermerk des polnischen Konsulats zur Einreise nach Polen berechtigten. Auf diese Weise wollte die polnische Regierung eine Massenausweisung nach Polen der im Deutschen Reich lebenden Juden polnischer Staatsangehörigkeit verhindern.

Die polnische Regierung wurde am 26. Oktober ultimativ aufgefordert, die Inhaber polnischer Pässe auch künftig ohne Sichtvermerk einreisen zu lassen; andernfalls werde man die polnischen Juden noch vor Inkrafttreten des Gesetzes abschieben.

Staatssekretär Ernst von Weizsäcker drückte gegenüber dem polnischen Botschafter Józef Lipski die Befürchtung aus, dass “uns im Wege der Ausbürgerung ein Klumpen von 40-50 Tausend staatenlosen ehemaligen polnischen Juden in den Schoß fiele”.

Als der Erlass über die deutsche Botschaft in Warschau auch in Berlin bekannt wurde, erhielten kurz darauf tausende polnischer Juden im Deutschen Reich ab dem 27. Oktober 1938 einen Ausweisungsbefehl, wurden verhaftet und mit größter Eile entweder zu Fuß oder in Sammeltransporten zur polnischen Grenze abgeschoben.

Wie konnte es dazu kommen, dass 70.000 Menschen abgeschoben wurden und größtenteils für ein halbes Jahr im Niemandsland leben mussten? Beide Staaten, Polen und Deutschland, wollten sich durch ihre Gesetzgebung und Aktionen der polnischen Juden, die in Deutschland lebten, entledigen.

Die “Polenaktion” vom 27. bis 28. Oktober 1938 war die erste Ausweisaktio der nationalsozialistischen Regierung. Dies war eine Reaktion auf das Märzgesetz Polens von 1938. Durch dieses hätten ca. 70 000 polnische Juden, die in Deutschland lebten, ihre Staatsangehörigkeit verloren und hätten in Deutschland bleiben müssen. Dies wollte die deutsche Regierung nicht hinnehmen und ließ die Juden an die deutsch-polnische Grenze bringen. Dort lebten ca. 8 000 Menschen im Niemandsland unter katastrophalen Bedingungen, da sich die polnische Regierung weigerte sie übernehmen. Die Ausweisung und Verweigerung der Übernahme polnischer Juden wird in der Literatur im Zusammenhang mit dem Pogrom gegen die Juden vom 9. und 10. November 1938, der “Reichskristallnacht”, genannt.

Da die Anordnung zur Zwangsausweisung der polnischen Juden nicht alle Reichsteile zeitgleich erreichte, variierte das Abschiebedatum je nach Wohnort zwischen dem 27., 28. oder 29. Oktober 1938. Ferner ließ der Erlass den Behörden vor Ort einen gewissen Interpretationsspielraum, so dass sich nicht nur die Art und Weise der Durchführung reichsweit unterschied, sondern auch die Entscheidung darüber, wem die Ausweisung drohte. Waren es in einer Stadt bzw. Region ganze Familien, die von der Polizei aus ihren Wohnungen geholt wurden, traf es andernorts nur die männlichen Mitglieder eines Haushaltes. Erreichte die Ausweisung einmal nur polnische Juden, die das 18. Lebensjahr vollendet hatten, so wurden an anderer Stelle auch Klein- und Kleinstkinder abgeschoben.

Entsprechend dem Streckenverlauf des deutschen Eisenbahnnetzes gelangten die Sammeltransporte vor allem an drei Grenzorte mit Bahnanschluss. Neben der bereits erwähnten Stadt Bentschen gingen größere Transporte nach Konitz (heute Chojnice) in Pommern und Beuthen (heute Bytom) in Oberschlesien.

Ein einheitliches Bild der Abschiebung lässt sich somit nicht entwerfen. Es wäre daher für die Zukunft um so wichtiger, den Ablauf und die Zahl der Betroffenen für jede Region im Einzelnen zu erforschen bzw. aufzuarbeiten.

Ein Teil der polnischen Quellen, die die "Polenaktion" betreffen, wurde in den Jahren 1984-1985 in der jüdisch sprachigen Wochenzeitung "Folks-Sztyme" in Polen veröffentlicht, einige andere Fragen in Artikeln verschiedener Fachzeitschriften angesprochen.

Obwohl diese Aktion überraschend kam, konnte die Polizei nur einen Teil der polnischen Juden festnehmen und abschieben; einige wurden nicht in der Wohnung angetroffen, mussten wegen Krankheit oder Gebrechlichkeit zurückgelassen werden oder konnten sich versteckt halten. 17.000 polnische Juden wurden mit Sonderzügen über die Grenze vor allem bei Zbąszyn (Bentschen), Chojnice (Konitz) in Pommern und Bytom (Beuthen) in Oberschlesien abgeschoben.

Die Zwangsausweisung kam für die polnischen Grenzbehörden überraschend, so dass sie unter den gegebenen Umständen völlig überfordert waren und je nach Ort unterschiedlich agierten. An manchen Grenzorten konnten die Ausgewiesenen ungehindert weiterreisen, ohne namentlich erfasst zu werden. In Zbąszyn wurde der Versuch unternommen, die abgeschobenen Personen zu registrieren bzw. ihre Pässe zu kontrollieren. Viele von ihnen konnten innerhalb der ersten zwei Tage in das Landesinnere weiterreisen. Diejenigen allerdings, die in Polen keine Familienangehörigen bzw. Bekannten hatten, bei denen sie unterkommen konnten, und diejenigen, denen man die Einreise verweigerte, wurden in Zbaszyn interniert.

Bereits am 31. Oktober 1938 begann die polnische Polizei damit, die Stadt weiträumig abzusperren. Sie einquartierte die Mehrzahl der Betroffenen in der alten Kaserne mit den dazugehörigen Ställen ein und erlaubte die Abreise fortan nur noch unter bestimmten Voraussetzungen. Diese waren erfüllt, wenn der Betroffene nachweisen konnte, dass er in Polen entweder bei Familienangehörigen bzw. Bekannten unterkommen würde oder entsprechende Papiere für eine bevorstehende Emigration besaß. Auch finden sich Fälle, in denen die Betroffenen kurzzeitig in das Deutsche Reich zurückkehren durften, um dort ihren Haushalt aufzulösen und ihre Vermögensverhältnisse zu klären. Im Anschluss daran wurden sie aber wieder nach Polen ausgewiesen.

Der Verbleib der in Bentschen internierten Menschen hing also von verschiedenen Faktoren ab. Konnten sie Bentschen nicht auf irgendeinem Wege vorzeitig verlassen, verblieben sie dort bis zur allmählichen Auflösung des Lagers im Sommer 1939. Für die davon Betroffenen lag dem Bundesarachiv eine Namenliste aus dem Archiv des American Joint Distribution Committee in New York vor.

Zwischen Polen und der deutschen Regierung kam es zu einer Einigung. Die im Flüchtlingslager wartenden Juden durften nach Polen zurückkehren. Für die Zukunft sollten aber monatlich nur noch etwa einhundert die Einreiseerlaubnis erhalten. Einige tausend polnische Juden, denen Warschau die Staatsbürgerschaft bereits vor ihrer Ausreise aberkannt hatte, mussten in Deutschland bleiben.

Des Weiteren befand sich ein polnischer Jude namens Zindel (Sendel) Grynszpan, Schneidermeister aus Hannover, nebst Angehörigen bei den Deportierten. Herschel Grynszpan, sein 17 jähriger Sohn, war mit einem polnischen Pass aus Deutschland nach Frankreich ausgereist. In Frankreich erhielt er keine Aufenthaltserlaubnis, England verweigerte die Weiterreise nach Palästina. Als auch eine Rückreise nach Deutschland nicht mehr möglich war und die französische Regierung ihn nach Polen ausliefern wollte, kaufte der mittellose (!) Grynszpan einen Revolver und schoss am 7. November 1938 damit nicht etwa auf einen hauptschuldigen Vertreter der polnischen Regierung, sondern auf den 3. Sekretär der deutschen Botschaft, Legationsrat Ernst Eduard vom Rath, der am 9. November verstarb.

Die Nationalsozialisten nahmen dies zum Anlass, in der folgenden Nacht die Novemberpogrome 1938, die sogenannte "Kristallnacht", auszulösen.

Diese verkürzte Darstellung wird dem Ausmaß der Vorgänge im Oktober 1938 jedoch nicht gerecht. Um dem Ablauf der “Polenaktion” selbst mehr Aufmerksamkeit zu widmen und das Schicksal der betroffenen Personen nachvollziehen zu können, ist es zunächst einmal unerlässlich, die Namen der Betroffenen herauszufinden, die derzeit nicht einmal zur Hälfte überliefert sind, je nachdem, von wie vielen abgeschobenen Personen ausgegangen wird.

Anhand der verschiedenen genannten Quellen - neben der Bentschenliste vor allem Quellen mit regional geschichtlichem Hintergrund - konnte das Bundesarchiv inzwischen ca. 7.000 Personen ermitteln, die Ende Oktober 1938 von der Zwangsausweisung nach Polen betroffen waren. Für ca. 4.800 von ihnen ließ sich der Ort Bentschen (Zbaszyn), der durch die weiteren Ereignisse in der Presse schon seinerzeit große Aufmerksamkeit erregte, als Grenzübergang nachweisen. Zeitzeugen sprachen von chaotischen Zuständen. Mehrere tausend Menschen irrten im Niemandsland umher, drängten sich auf dem Bahngelände, hausten im Stationsgebäude oder auf nahe gelegenen Plätzen in der polnischen Grenzstadt Bentschen sowie auf den die Stadt umgebenden Wiesen. Das alles kam für die polnischen Behörden überraschend, so dass sie unter den gegebenen Umständen völlig überfordert waren.

Eine der umfangreichsten Quellen, die besondere Aufmerksamkeit verlangt, ist die beim Internationalen Suchdienst in Bad Arolsen aufbewahrte Namen liste mit Opfern der “Polenaktion”, die über Bentschen abgeschoben wurden. In der Datenbank wurde ihr Schicksal in der Rubrik Abschiebung mit dem Datum “28.10.1938” und dem Zielort “Bentschen (Zbąszyn)” angegeben, sofern durch ergänzende Quellen kein abweichendes Abschiebedatum ermittelt werden konnte.

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Weitere Quellen: Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945. Band 2: Deutsches Reich 1938–August 1939 (hrsg. von Susanne Heim), München 2009, ISBN 978-3-486-58523-0, S. 52; Aufzeichnung des Staatssekretärs vom 8. November 1938, zitiert nach: Die Verfolgung und Ermordung..., Bd. 2, S. 52 mit Anm. 136; Hans-Jürgen Döscher: “Reichskristallnacht” – Die Novemberpogrome 1938. München 2000, ISBN 3-612-26753-1, S. 57; Die Verfolgung und Ermordung..., Dokument 112, S. 322 ; Rita Thalmann, Emanuel Feinermann: Die Kristallnacht. Hamburg 1993, ISBN 3-434-46211-2, S. 38.

Trude Maurer, Abschiebung und Attentat. Die Ausweisung der polnischen Juden und der Vorwand dafür.

Nach Atlas der Weltreligionen, Oxford University Press, 2000, S. 132 waren es 3.275.000 und nach der Encyklopedia PWN, Krakau 2006, Band 20, S. 705, waren in Polen “ungefähr 3.0 mln Juden”, Wielka Encyklopedia Powszechna PWN, Warschau 1967, Band 12, S. 876, schreibt von 3,0 Millionen Juden.

Solution, nach dem Wörterbuch Lateinisch-Deutsch, Langenscheit, 2008, s. 742: "Lösung der Frage oder Problems" und auch Auflösung.

S. Zerko, Stosunki polsko-niemieckie 1938-1939, Instytut Zachodni Poznan, 1998 S. 83, w tym miejscu pisze Lipski: “(...) w tym pukcie mu odpowiedziałem, że jeśli znajdzie solucję, postawimy mu piękny pomnik w Warszawie”.

. H. Meiser, Völkermorde vom Altertum bis zur Gegenwart, Grabert, 2000, S. 263.

. Thomas: Der Verlust. Die Vertreibung der Deutschen und Polen im 20. Jahrhundert, Bonn.

H.Meiser,Völkermorde vom Altertum bis zur Gegenwart, Grabert 2009, S. 268.