Wydanie/Ausgabe 131/04.04.2024

Dieser Vortrag befasst sich schwerpunktmäßig nicht mit den spezifischen Konflikten und Ereignissen, die zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs führten sondern vielmehr mit den generelleren Ursachen des Krieges.Betrachtet man das gewaltige Ausmaß der Erschütterungen, das die Welt in den Jahren 1939-45 erfuhr, so ist es vereinfachend und geradezu absurd, die Kriegsgründe vorrangig in den diplomatischen Streitigkeiten im Vorfeld der feindlichen Auseinandersetzung zu suchen - wie zum Beispiel in der Frage des Danziger Korridors - und sie nicht in einem größeren historischen Kontext zu betrachten.

Jede Ursachenforschung zum Zweiten Weltkrieg muss sich zunächst mit der Tatsache auseinandersetzen, dass die Entwicklung des weltweiten militärischen Konflikts zwischen 1939 und 1945 nur 25 Jahre nach dem ersten globalen Militärkonflikt stattfand, dem Ersten Weltkrieg von 1914 bis 1918. Das heißt, nur 21 Jahre lagen zwischen dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs. Oder man könnte auch sagen, dass im Zeitraum von nur 31 Jahren zwei katastrophale Weltkriege stattfanden.

Vielleicht kann man sich dies noch besser vergegenwärtigen, wenn man sich klarmacht, dass die Zeitspanne zwischen 1914 und 1945 die gleiche ist wie zwischen den Jahren 1978 und 2009. Bleiben wir bei diesem Zeitvergleich, dann wäre beispielsweise ein 1960 geborener Mann im Jahre 1978 mit 18 Jahren alt genug gewesen, um zum Kriegsdienst eingezogen zu werden. Hätte er überlebt, wäre er zum Kriegsende 22 gewesen. Und im Alter von 43 Jahren hätte er den Ausbruch des nächsten Weltkriegs erlebt, mit 49 Jahren dann sein Ende.

 

Was bedeutet dies auf einer sehr menschlichen und persönlichen Ebene? Im Alter von 50 Jahren hätte dieser Mensch direkt oder indirekt ein schreckliches Maß an Gewalt erfahren. Er hätte wohl sehr viele Menschen gekannt, die im Laufe dieser Kriege ums Leben kamen.

 

Natürlich kam nicht jeder während dieser zwei Weltkriege im gleichen Ausmaß in Berührung mit dem Tod. Bedingt durch den Wohnort war die Erfahrung des Durchschnittsamerikaners eine gänzlich andere als die des Durchschnittsbürgers in England, Frankreich, Deutschland, Polen, Russland, China oder Japan.

 

Tote im Ersten und Zweiten Weltkrieg

 

In Bezug auf den Ersten Weltkrieg reichen die Schätzungen zur Gesamtzahl der Toten von neun Millionen bis hin zu 16 Millionen. Von diesen starben dabei 6,8 Millionen Menschen in Gefechten und Kämpfen. Weitere zwei Millionen Kriegstote gehen auf Unfälle, Krankheiten und die Internierung in Kriegsgefangenenlagern zurück.

 

Die folgenden Tabellen zeigen die Toten des Ersten Weltkriegs nach Ländern:

Tabelle 1: Tote im Ersten Weltkrieg nach Ländern, Alliierte

Tabelle 1: Tote im Ersten Weltkrieg nach Ländern, Alliierte

Tabelle 2: Tote im Ersten Weltkrieg nach Ländern, Achsenmächte

Tabelle 2: Tote im Ersten Weltkrieg nach Ländern, Achsenmächte

 

 

 

Das waren gewaltige Verluste. Nachdem der Krieg direkt millionenfaches Sterben verursacht hatte, verloren nach dem Waffenstillstand noch einmal ca. 20 Millionen Menschen ihr Leben durch die Spanische Grippe, die als Epidemie unter der durch die Kriegsjahre geschwächten Bevölkerung wütete.

 

 

 

Die menschlichen Kosten des Zweiten Weltkriegs gingen weit über die des Ersten Weltkriegs hinaus. Schätzungen zur Gesamtzahl der Toten reichen von 62 Millionen bis 78 Millionen. Unter diesen finden sich 22 bis 25 Millionen tote Soldaten, darunter auch fünf Millionen tote Kriegsgefangene. Die Zahl der zivilen Opfer wird auf 40 bis 52 Millionen geschätzt.

 

 

 

Werfen wir einen Blick auf die Todeszahlen einiger Länder, die am direktesten von dem Gemetzel betroffen waren.

Tabelle 3: Tote im Zweiten Weltkrieg nach Ländern

Tabelle 3: Tote im Zweiten Weltkrieg nach Ländern

 

Weitere Länder, die mehr als zehn Prozent ihrer Bevölkerung verloren, waren Litauen und Lettland. Mindestens drei Prozent ihrer Bevölkerung verloren Estland, Jugoslawien, die Niederlande, Rumänien, Singapur und Ungarn.

 

 

 

In diesen entsetzlichen Todesziffern beinhaltet ist auch die Auslöschung der europäischen Juden. Zwischen 1939 und 1945 wurden sechs Millionen Juden ermordet, darunter drei Millionen polnische Juden und beinahe eine Million ukrainische Juden. In Prozentzahlen ausgedrückt: Es wurden 90 Prozent der Juden in Polen, dem Baltikum und Deutschland getötet. Mehr als 80 Prozent der tschechoslowakischen Juden wurden ermordet. Mehr als 70 Prozent der niederländischen, ungarischen und griechischen Juden wurden ausgelöscht. Etwa 60 Prozent der jugoslawischen und belgischen Juden wurden getötet. Mehr als 40 Prozent der norwegischen Juden wurden ausgelöscht. Mehr als 20 Prozent der französischen, bulgarischen und italienischen Juden wurden ermordet.

In jedem Fall wurde dieser Völkermord mit der Unterstützung örtlicher Machthaber durchgeführt. Das einzige von Nazis besetzte Land, in dem die Bevölkerung sich zusammenschloss, um die jüdische Bevölkerung zu retten, war Dänemark. Obwohl es an Deutschland grenzt, wurden diesem Land nur 52 von insgesamt 8.000 Juden Opfer des Naziterrors - das heißt weniger als ein Prozent.

Insgesamt betrachtet und vorsichtig geschätzt, kosteten die beiden Weltkriege etwa 80 bis 90 Millionen Menschen das Leben. Hinzu kommen Hunderte Millionen Menschen, die durch die zwei Kriege in irgendeiner Weise körperlich oder seelisch verwundet waren- die Eltern, Kindern, Geschwister und Freunde verloren hatten, die vertrieben wurden, aus ihrer Heimat fliehen mussten und unwiederbringliche und unersetzliche Verbindungen zu ihrem persönlichen und kulturellen Erbe einbüßten. Das entsetzliche Ausmaß der Tragödie, die sich in den 31 Jahren zwischen 1914 und 1945 ereignete, ist unmöglich in vollem Umfang zu erfassen, geschweige denn zu verstehen.

Wenn wir uns diese Ereignisse vor Augen führen, so müssen wir uns erinnern, dass diese gewaltige und beispiellose Tragödie sich - historisch betrachtet - erst vor recht kurzer Zeit abspielte. Immer noch leben Zehntausende Menschen, die den Zweiten Weltkrieg bewusst erlebt haben. Und für die Menschen meiner Generation ereignete sich der Erste Weltkrieg zu Lebzeiten unserer Großeltern - und unsere Großväter waren nicht selten Veteranen dieses Kriegs.

Mit anderen Worten, der Erste und Zweite Weltkrieg gehören zur modernen Geschichte. Die Welt, in der wir leben, ist zu einem sehr großen Teil das Ergebnis dieser beiden miteinander verbundenen Katastrophen.

Darüber hinaus haben sich die politischen und ökonomischen Widersprüche, aus denen diese Kriege entstanden, nicht aufgelöst. Allein diese historische Tatsache ist Grund genug, um den 70. Jahrestag des Kriegsausbruchs zum Anlass zu nehmen, um einmal mehr die Ursachen, Folgen und Lehren des Kriegs zu betrachten

Die Ursprünge und Ursachen des Ersten und Zweiten Weltkriegs

Natürlich kann man im Rahmen eines einzelnen Vortrags die wesentlichen Ursachen des Kriegs leider nur grob skizzieren. Im Sinne der Klarheit, doch ohne unnötige Vereinfachung, wird diese Skizze den Ersten und Zweiten Weltkrieg als unlösbar miteinander verbundene Episoden behandeln.

Die Geschwindigkeit, mit der sich die Krise im Sommer 1914 entwickelte, kam für viele überraschend. Kaum jemand hatte erwartet, dass der Mord am österreichischen Erzherzog Franz Ferdinand in Sarajewo am 28. Juni 1914 innerhalb von nur fünf Wochen zu einem ausgewachsenen europäischen Krieg führen würde, der schließlich, mit dem Eintritt der Vereinigten Staaten in den Konflikt, globale Dimensionen annehmen sollte.

Doch die Bedingungen für den katastrophalen militärischen Zusammenstoß waren in den vorherigen 15 Jahren herangereift, und diese Bedingungen waren mit dramatischen Veränderungen in der Weltwirtschaft und dadurch auch der Weltpolitik verbunden.

Vor dem Ausbruch 1914 hatte es keinen allgemeinen Krieg zwischen den europäischen "Großmächten" mehr seit dem Ende der Napoleonischen Kriege 1815 gegeben. Der Wiener Kongress hatte einen relativ stabilen Rahmen innerstaatlicher Beziehungen geschaffen, der für den Rest des Jahrhunderts hielt.

Natürlich war das Neunzehnte Jahrhundert nicht gänzlich friedlich. Das Nationalstaatensystem entstand in seiner modernen Form aus einer Reihe bedeutender militärischer Konflikte, am blutigsten unter ihnen der Amerikanische Bürgerkrieg. In Europa wurde die Konsolidierung des modernen deutschen Staates unter preußischer Hegemonie von Bismarck erreicht, der die Militärmacht kalkuliert gegen Dänemark (1864), Österreich (1866) und Frankreich (1870) einsetzte. Bereits früher, in den 1850er Jahren, waren Großbritannien und Frankreich im Krimkrieg den geopolitischen Ambitionen des Russischen Reiches entgegengetreten. Aber diese militärischen Konflikte waren recht begrenzt und führten nicht zu einem Zusammenbruch des gesamten Rahmens der europäischen und internationalen Politik.

 

Doch in den 1890er Jahren wurde immer deutlicher, dass sich das Wesen der Weltpolitik zutiefst veränderte. Grundlegend hierfür waren die massive Ausdehnung der kapitalistischen Finanzwirtschaft und Industrie, insbesondere in Europa und Nordamerika, und der wachsende Einfluss globaler Wirtschaftsinteressen auf die Überlegungen der Nationalstaaten.

 

In den 1890er Jahren wurde der Konflikt zwischen den großen kapitalistischen Staaten um Dominanz innerhalb bestimmter "Einflusssphären" zur Grundlage der Weltpolitik. Oder um präziser zu sein, war es der Konflikt zwischen den mächtigsten und einflussreichsten Machthabern im Finanz- und Industriesektor, die Einfluss auf die außenpolitische Ausrichtung ausübten. Diese Entwicklung fand ihren rücksichtslosesten und brutalsten Ausdruck im Kampf um die Kolonien, deren Bevölkerung praktisch auf den Status von Sklaven reduziert wurde.

 

Das Zeitalter des Imperialismus hatte begonnen. Diese Entwicklung beinhaltete eine bedeutende und immer gefährlichere Destabilisierung der Beziehungsstruktur zwischen den Staaten. In den Jahrzehnten nach dem Ende der Napoleonischen Kriege hatte Großbritannien eine praktisch unangefochtene Vormachtstellung inne. Das Empire, das auf dem gewaltigen Kolonialreich beruhte, war der dominante Faktor der internationalen Politik im 19. Jahrhundert. Ein Sprichwort besagte, dass im britischen Empire die Sonne nie unterging und die Löhne nie stiegen. Frankreich genoss als alte Kolonialmacht auch einen privilegierten Status im Weltsystem, lag aber deutlich hinter Großbritannien zurück.

 

Die aufstrebenden neuen bürgerlichen Nationalstaaten, die sich auf der Basis einer schnell expandierenden kapitalistischen Industrie und Finanzwirtschaft entwickelten, übten immensen Druck auf die existierenden geo-politischen Beziehungen aus. Die zwei wichtigsten "neuen" kapitalistischen Staaten, die rasch ein imperialistisches Interesse und entsprechenden Appetit entwickelten, waren Deutschland und die Vereinigten Staaten.

 

Die Vereinigten Staaten traten 1898 in den imperialistischen Club ein, als die Regierung unter Präsident McKinley mit unübertroffenem Zynismus, Heuchelei und Unaufrichtigkeit einen Vorwand für einen Krieg gegen Spanien konstruierte. Innerhalb weniger Monate wurde Kuba zu einer Halbkolonie der Vereinigten Staaten. Gleichzeitig legten die Vereinigten Staaten durch die Besetzung der Philippinen den Grundstein für ihre imperialistische Dominanz im pazifischen Raum. Nachdem sie die Besetzung der Philippinen mit dem Ruf nach Freiheit und Demokratie für die Einwohner gerechtfertigt hatten, zeigten die Vereinigten Staaten, was von ihrem Versprechen zu halten war, als sie 200.000 Bewohner der Inselgruppe abschlachteten, die gegen die Besatzung revoltiert hatten.

 

Die Vereinigten Staaten waren mit einem geografischen Vorteil gesegnet. Ihre Entwicklung fand auf einem riesigen Kontinent statt und zwei Ozeane schützten sie vor der Einmischung fremder Mächte. Die meisten europäischen Mächte waren über McKinleys unaufrichtige Kriegstreiberei entsetzt, konnten jedoch absolut nichts dagegen tun.

 

Die wachsenden Ambitionen Deutschlands wiederum kollidierten unmittelbar mit der imperialistischen Nachbarschaft in Europa - zunächst vor allem mit Frankreich und Russland und dann, noch schwerwiegender, mit Großbritannien.

 

Somit bildeten die wachsenden Konflikte zwischen mächtigen kapitalistischen Nationalstaaten, die eine zunehmend global integrierte Wirtschaft zu dominieren versuchten, die wirkliche Grundlage für sich aufschaukelnde geopolitische Spannungen, die schließlich im Sommer 1914 zum Ausbruch kamen.

 

Wer trägt die Verantwortung?

 

Während und nach dem Ersten Weltkrieg gab es eine große Diskussion um die Frage, wer den Krieg "angefangen", wer "den ersten Schuss abgefeuert" und somit Schuld hatte. Solche Fragen spielen immer eine große Rolle in der Propaganda der am Krieg beteiligten Staaten, da die herrschenden Eliten sich immer eifrig von der Verantwortung für die katastrophalen Konsequenzen ihrer militärischen Zündelei freisprechen wollen.

 

Isoliert von den größeren historischen Umständen betrachtet, gibt es reichliche Indizien, dass Deutschland mit dem Russen Gespräche führte, um Russland von dem eintreten mit Serbien abzuhalten. Gleichzeitig hat Deutschland mit Österreich-Ungarn ein gegenseitige Pakt der Hilfe unterschrieben. Die Regierungen dieser Länder entschlossen sich mit unglaublicher Rücksichtslosigkeit dazu, den Mord an Franz Ferdinand auszunutzen, um lang gehegte geopolitische Ziele zu erreichen. Sie trafen Entscheidungen, die eine katastrophale Kettenreaktion in Gang setzten und schließlich zum Ausbruch der Feindseligkeiten führten. Aber außer dass wir daran das kriminelle Handeln erkennen können, zu dem kapitalistische Regimes in der Lage sind - wie auch jüngst beim den Kriegen gegen den Irak und Afghanistan zu beobachten, die auf reinen Lügengespinsten beruhten - ist der Beweis der deutschen und österreichischen Kriegsschuld nicht geeignet für eine Erklärung der größeren und tieferen Kriegsursachen.

 

Es ist richtig, dass Frankreich und Großbritannien den Krieg im August 1914 nicht unbedingt wollten. Aber dies nicht, weil sie den Frieden liebten. Großbritannien, das sollte nicht vergessen werden, war erst ein Jahrzehnt zuvor brutal gegen die Buren in Südafrika zu Felde gerückt. Wenn Großbritannien und Frankreich im August 1914 keinen Krieg "wollten", dann weil sie mit dem geopolitischen Status einigermaßen zufrieden waren und ihre globalen Interessen dadurch gut vertreten sahen. Als jedoch Handlungen von Seiten Deutschlands und Österreich-Ungarns diesen Status und damit ihre Interessen bedrohten, akzeptierten sie den Krieg als politische Notwendigkeit. Vom Standpunkt der imperialistischen Interessen Frankreichs und Großbritannien aus gesehen war Krieg einem Frieden vorzuziehen, der den Status quo zugunsten Deutschlands verändert hätte.

 

Die Kriegsursachen sind somit letztlich nicht in den Handlungen des einen oder anderen Staates vor Ausbruch der Kämpfe zu finden. Die Ursachen liegen im Wesen des imperialistischen Systems, in der Logik der Kämpfe mächtiger kapitalistischer Nationalstaaten um die Vorherrschaft über eine zunehmend integrierte Weltwirtschaft.

 

Die marxistische Analyse

 

In den Vorkriegsjahren hatte die internationale sozialistische Bewegung eine Reihe von Kongressen abgehalten, auf denen vor den tödlichen Konsequenzen des sich entwickelnden Imperialismus ebenso gewarnt wurde wie vor dem Militarismus, den er hervorbrachte. Die Zweite Internationale, die 1889 gegründet worden war, erklärte wieder und wieder ihre unversöhnliche Gegnerschaft zum kapitalistischen Militarismus und gelobte, die Arbeiterklasse gegen den Krieg zu mobilisieren. Sie warnte die herrschende Klasse Europas, wenn es zum Krieg käme, würde die Internationale die durch den Krieg entstandene Krise nutzen, um den Sturz des Kapitalismus zu beschleunigen.

 

Doch im August 1914 wurden diese Versprechen von praktisch allen führenden europäischen Sozialisten verraten. Am 4. August 1914 stimmt die deutsche Sozialdemokratische Partei - die größte sozialistische Partei weltweit - im Reichstag für die Kriegskredite. Die gleiche patriotische Haltung wurde von den sozialistischen Führungen in Frankreich, Österreich und Großbritannien eingenommen. Nur eine Handvoll führender Sozialisten bezog klar und unmissverständlich Stellung gegen den Krieg, am bekanntesten unter ihnen Lenin, Trotzki und Rosa Luxemburg.

 

Ich will kurz auf die Analyse eingehen, die Trotzki zu den Kriegsursachen anfertigte. Er verachtete die irreführenden und heuchlerischen Behauptungen zahlreicher sozialistischer Führer, dass sie sich auf die Seite der kapitalistischen Herrscher stellen mussten, um ihr Land gegen ausländische Aggressoren zu verteidigen. Trotzki enthüllte die dreisten Lügen, mit denen die Krieg führenden Regierungen die realpolitischen und wirtschaftlichen Beweggründe verdecken wollten, die hinter ihrer Entscheidung standen, zu den Waffen zu greifen. Er bestand darauf, dass die Kriegsursachen tiefer lagen, in strukturellen Veränderungen der Weltwirtschaft und dem Wesen des kapitalistischen Nationalstaatensystems selbst.

 

Trotzki wurde mit Kriegsausbruch gezwungen, Österreich zu verlassen, und ging nach Zürich. Dort schrieb er 1915 das brillante Pamphlet Krieg und die Internationale, in der er die wesentliche Bedeutung des Kriegs erklärt.

 

"Der Kern des gegenwärtigen Krieges ist der Aufruhr der Produktivkräfte, die den Kapitalismus erzeugten, gegen ihre nationalstaatliche Ausbeutungsform. [...] Der Krieg von 1914 bedeutet vor allem die Zertrümmerung des nationalen Staates als eines selbständigen Wirtschaftsgebietes.

 

Die Nationalität muss auch weiter eine kulturelle, ideologische, psychologische Tatsache bleiben, aber die ökonomische Basis ist ihr unter den Füßen weggezogen. Alle Reden darüber, dass der jetzige blutige Zusammenstoß ein Werk der nationalen Verteidigung sei, sind eine Heuchelei oder Blindheit. Im Gegenteil: Der objektive Sinn des Krieges besteht in der Zertrümmerung der gegenwärtigen national-wirtschaftlichen Zentren im Namen der Weltwirtschaft. Doch nicht auf der Grundlage einer verständig organisierten Mitarbeit der gesamten produzierenden Menschheit trachtet man diese Aufgabe des Imperialismus zu lösen, sondern auf der Grundlage der Ausbeutung der Weltwirtschaft durch die kapitalistische Klasse des siegreichen Landes, das durch diesen Krieg aus einer Großmacht zu einer Weltmacht werden soll.

 

Der Krieg verkündet den Zusammenbruch des nationalen Staates. Doch zugleich auch die Zertrümmerung der kapitalistischen Wirtschaftsform. Aus dem nationalen Staat heraus revolutionierte der Kapitalismus die gesamte Weltwirtschaft, indem er den ganzen Erdball zwischen den Oligarchien der Großmächte verteilte, um welche sich ihre Trabanten, die Kleinstaaten, gruppieren, die von der Rivalität der Großen leben. Die weitere Entwicklung der Weltwirtschaft auf kapitalistischer Grundlage bedeutet einen unaufhörlichen Kampf der Weltmächte um neue und immer neue Gebiete der einen und selben Erdoberfläche als eines Objekts kapitalistischer Ausbeutung. Die ökonomische Rivalität unter dem Zeichen des Militarismus wechselt mit Raub und Zerstörung, die die elementaren Grundlagen menschlicher Wirtschaft auflösen. Die Weltproduktion empört sich nicht nur gegen die national-staatlichen Wirrnisse, sondern auch gegen die kapitalistische Wirtschaftsorganisation, die sich zu deren barbarischer Desorganisation umgewandelt hat.

 

Der Krieg von 1914 ist der größte Zusammenbruch eines an seinen eigenen Widersprüchen zugrunde gehenden ökonomischen Systems, den die Geschichte kennt. [...]

 

Der Kapitalismus schuf die materiellen Voraussetzungen einer neuen sozialistischen Wirtschaft. Der Imperialismus führte die kapitalistischen Völker in historische Wirrsale. Der Krieg von 1914 zeigt den Weg aus diesen Wirrsalen, indem er das Proletariat gewaltsam herausführt auf den Weg der Revolution." (Essen 1998, S. 377f.)

 

Diese Analyse wurde bestätigt durch die Russische Revolution, die im Oktober 1917 die Bolschewistische Partei unter Führung von Lenin und Trotzki an die Macht brachte.

 

Das Ergebnis des Ersten Weltkriegs

 

Nach vier Jahren eines bis dato beispiellosen Konflikts und Blutvergießens endete der Krieg im November 1918 recht abrupt. Das Kriegsende hatte mehr mit den veränderten politischen Bedingungen in den Krieg führenden Ländern zu tun als mit den Ergebnissen auf den Schlachtfeldern. Die Oktoberrevolution führte zu einem schnellen Rückzug Russlands aus dem Krieg. Die französische Armee stand nach den Soldatenmeutereien von 1917 kurz von dem Zusammenbruch. Nur der Nachschub an amerikanischen Männern und Material von Seiten der Alliierten verhinderte die militärische Niederlage und hielt, zumindest für eine Weile, die Moral aufrecht. In Deutschland wuchs die Opposition gegen den Krieg nach dem Sieg der Bolschewiki in Russland schnell. Im Oktober 1918 führte die Meuterei der Kieler Matrosen zu einer Welle größerer revolutionärer Proteste, die zur Abdankung von Kaiser Wilhelm II. führten. Da Deutschland den Krieg nicht fortsetzen konnte, suchte es um Frieden nach.

 

Obwohl Deutschland eine Niederlage erlitten hatte, brachte der Krieg nicht das Ergebnis, das Großbritannien und Frankreich sich eigentlich erhofft hatten. Im Osten hatte der Krieg zur sozialen Revolution geführt und die Arbeiterklasse in ganz Europa radikalisiert. Im Westen schuf der Krieg die Voraussetzungen für den Aufstieg der Vereinigten Staaten - die vergleichsweise geringe Verluste erlitten hatten - zur kapitalistischen Hegemonialmacht.

 

Darüber hinaus bereitete der Versailler Friedensvertrag von 1919 den Boden für das Aufflammen neuer Konflikte. Die harschen Bedingungen, auf die der französische Imperialismus bestand, trugen kaum zu stabilen Beziehungen auf dem europäischen Kontinent bei. Die Zerschlagung des Kaiserreichs Österreich-Ungarn führte zur Schaffung einer Reihe von instabilen Nationalstaaten, die von Anfang an mit tief verwurzelten und explosiven ethnischen Spannungen zu kämpfen hatten. Vor allem aber verpasste es der Versailler Vertrag, eine Grundlage für die Wiederherstellung eines ökonomischen Gleichgewichts in Europa zu schaffen. Stattdessen war die kapitalistische Weltwirtschaft, die aus dem Krieg hervorging, von den Ungleichgewichten geprägt, die schließlich zu dem beispiellosen Zusammenbruch führten, der im Oktober 1929 an der Wall Street seinen Anfang nahm.

 

Ein weiterer wichtiger Faktor für die Wiederkehr der internationalen Spannungen, die erneut zum Weltkrieg führten, war die neue Rolle der Vereinigten Staaten auf Weltebene. Auch wenn US-Präsident Wilson - besonders nach dem Eintritt der Vereinigten Staaten in den Krieg und dem Sieg der sozialistischen Revolution in Russland - als Retter des kapitalistischen Europas gefeiert wurde, wurde der europäischen Bourgeoisie doch bald klar, dass die Interessen der Vereinigten Staaten nicht gänzlich auf der Linie der eigenen Interessen lagen. Die amerikanische Bourgeoisie war nicht bereit, eine europäische Vorherrschaft auf Weltebene hinzunehmen. Sie betrachtete die Privilegien, die Großbritannien im Rahmen des Empires genoss, als Hindernis für ihre eigenen Handelsinteressen.

 

Die stete Expansion amerikanischer Macht mochte den britischen Diplomaten schlaflose Nächte bereiten, die rücksichtslosesten Vertreter des deutschen Imperialismus verloren darüber ihre Nerven. In Ökonomie der Zerstörung, einer neuen Studie zu den Ursprüngen des Weltkriegs, schreibt der angesehene Professor Adam Tooze:

 

"Amerika ist unser Dreh- und Angelpunkt. Historiker haben bei ihren Versuchen, Hitlers unbändige Angriffslust zu erklären, bislang immer unterschätzt, wie sehr er sich der Bedrohung bewusst war, die von den Vereinigten Staaten für sein Reich ausging, seit Amerika als dominante globale Supermacht neben den europäischen Staaten die Bühne betreten hatte. Schon in den zwanziger Jahren hatte Hitler anhand zeitgenössischer Wirtschaftstrends vorausgesagt, dass die europäischen Mächte nur noch ein paar Jahre Zeit hätten, um sich gegen das Unabänderliche zu wappnen. [...]

 

Die Aggression des Hitlerregimes kann als eine Reaktion auf die Spannungen verstanden werden, die durch die ungleichen Entwicklungen im globalen Kapitalismus entstanden waren und bis heute spürbar sind." (München 2007, S. 15f.)