Wydanie/Ausgabe 131/04.04.2024

Ohne Dialog geht es nicht" - Der katholische Theologe Professor Alfons Nossol blickt zuversichtlich auf das deutsch­polnische Verhältnis. Allmählich nähern sich Polen und Deutsche einem Punkt, neben­einander leben und sich ergänzen zu wol­len, glaubt der ehemalige Oberhirte von Oppeln. Seiner Heimat Oberschlesien könne dabei eine wichtige Mittlerfunktion zukom­men. Dank an Sabine Adler für die Auszüge aus dem von ihr geführten Gespräch.

Herr Erzbischof, wenn wir uns heute das Verhältnis ansehen dieser Woche haben wir zurückgeblickt auf 50 Jahre Elysee-Vertrag zwischen Deutschland und Frankreich, unterschrieben vor 50 Jahren. Ist das Verhältnis, wie es zwischen Frank­reich und Deutschland war, das ja nun auch eine wirklich schwere Geschichte hat, denken wir an den Ersten Weltkrieg, ist dieses Verhältnis zwischen Frankreich und Deutschland ein Vorbild vielleicht zwischen Deutschland und Polen, oder haben wir das schon längst erreicht?

In gewisser Hinsicht schon. Jedenfalls für mich war das französisch-deutsche, deutsch-französische Verhältnis und diese Aussöhnung zwischen den zwei Nachbar­völkern, die sich als „Erzfeinde" bezeichneten, dass das reell, dass das möglich geworden ist, das war für mich ein An­sporn, warum könnte es auch nicht bei dem deutsch-polnischen Verhältnis ähn­lich kommen. Es verlangt viel Geduld, viele feine, saubere, realistische Arbeit, Entgegenkommen, natürlich Objektivität, Einfühlungsvermögen. Allein schafft man es nicht. Man muss die ganze Kontextualität näher kennenlernen, denn manchmal hängt ja vom Kontext mehr ab als vom Text selbst. Und Schlesien betrachtete ich in die­ser Hinsicht immer als ein Land, dem eine Vermittlerrolle zugekommen ist in die­sem deutsch-polnischen Verhältnis. Denn hier kannte man eigentlich irgendwie das Geheimnis, das Herz beider Völker. Denn geschichtlich gesehen hatten wir dauernd diese Verbindungen. Hier in Großstein - zwölf Kilometer Luftlinie vom Sankt Annaberg - der Sankt Annaberg war immer ein Berg der Versöhnung zwischen diesen drei Völkern. Und insofern hatten wir hier ein gewisses Übungsfeld. Die Vergangenheit - die politische Vergangenheit, die geogra­fische Vergangenheit, die ethnische Ver­gangenheit, die war hier eben in im Wesen, im Brennpunkt. Zum Beispiel am Sankt Annaberg: Die einzelnen Wallfahrten, die da abgehalten worden sind, sind eigentlich anfangs in drei Sprachen abge­halten worden. An einem Sonntag ging es dann später deutsch zu, den nächsten Sonntag polnisch und den übernächsten Sonntag die gleiche Wallfahrt tschechisch. Insofern kommt auf Schlesien, ganz beson­ders Oberschlesien, eine Mittlerfunktion zu und kann es als ein Versöhnungsmitglied dienen. Und das war auch der Fall.

Herr Erzbischof Nossol, Sie sind ja eine der wenigen Personen, die beide Päpste aus nächster Nähe kennen. Sie sind befreundet gewesen mit Johannes Paul II., Sie sind befreundet mit Benedikt XVI. Die Personen, Sie haben es gerade gesagt, sind sehr, sehr unterschiedlich. Können Sie ein biss­chen erläutern für Menschen, die sie nicht so gut gekannt haben - die beiden Päpste -, warum der eine so unglaublich populär war und der andere das vermutlich nie sein wird?

Also, das ist das Verhältnis und die Differenz zwischen einem puren Theoretiker und einem zutiefst praktischen Menschen. Ratzinger war nie ein großer Seelsorger gewesen, er war eine Koryphäe, war ein profunder Wissenschaftler. Er gehört zu den größten Theologen, die wir bis dahin hat­ten. Er bemüht sich in klaren, einfachen Worten das zutiefst komplizierte theologische Wesen der Glaubenswahrheiten anzuprechen. Und das gelingt ihm. Sehen Sie, ich habe gebangt nach dem Tode Johannes Paul II.: Was wird jetzt aus den offiziellen Mittwochstreffen, Audienzen des Papstes werden, wo so viele Menschen gekommen sind, so viel Tausende. Und ich habe gebangt, das nimmt ab. Aber wissen Sie, es hat nicht abgenommen, es hat sogar noch zugenommen, der Zulauf. Früher kamen die Menschen auf den Petersplatz überwiegend deswegen. Sie wollten den Papst sehen. Und jetzt kommen sie: Sie wollen den Papst hören. Und Benedikt XVI. geht direkt ans Wesen ran, und seine profunden Kenntnisse der Philosophie, der Theologie, der ganzen Ökumene, der Literatur, auch die Sprachkenntnisse. Das hatte natürlich Johannes Paul II. auch, aber er, Ratzinger, ist ja bereits das katholische Mitglied als Kardinal der Akademie Francais, seiner perfekten französischen Sprache wegen. Und sehen Sie, ich habe es ein paar Mal erlebt, ich habe ihn sogar übersetzt auch für unsere Geistlichen in Lublin. Er hatte manchmal ein lateinisches Manuskript und hat den Vortrag deutsch gelesen. Oder er hatte ein deutsches Manuskript und hat lateinisch gesprochen. Also in dieser Hinsicht ist er ein Genie, und das merkt man ihm an. Und ein zutiefst guter und demütiger Mensch. Und das ist Johannes Paul II. wirklich gelungen, dass er ihn zum Präfekten der Glaubenskongregation ernannt hatte. Er wollte nicht, denn er hat ja einmal abgesagt. Er will die Menschen, für die er Bischof werden musste, nicht enttäuschen. Erst nach drei Jahren ging er nach Rom, und Johannes Paul II. hat nicht nachgelassen. Er wusste, wen er in Ratzinger hat. Die beiden Päpste ergänzen sich sehr. Ein großer Wissenschaftler, aber mehr Philosoph, mehr Phänomenologe, als klassischer Theologe. Das war Johannes Paul II. nicht.

Geht man zu weil, wenn man sagt, dass Johannes Paul II. der größere Politiker war?

Jawohl, er war auch ein größerer Politiker als Ratzinger, ohne Weiteres. Er hat auch so manches gewagt. Zum Beispiel hat er den Ständigen Rat der polnischen Bischofskonferenz in der Zeit des Kriegszustandes zu sich in den Vatikan eingeladen. Mir nichts, dir nichts: Alle stimmberechtigten Mitglieder bekamen plötzlich den Reisepass und die Einreise. Wir durften hin! Und dort hat er uns auf so vieles aufmerksam gemacht, hat auch gesagt: Sie dürfen sich da politisch in der ganzen Solidaritätsbewegung nicht engagieren, aber Sie dürfen es auch nicht vergessen: Alle Probleme, alle Anliegen, die die Solidaritätsbewegung auf ihre Fahnen geschrieben hat, sind zutiefst menschliche Anliegen. Und diese menschlichen Anliegen, weil sie christlich zugleich sind, die müssen Sie angehen. Aber nicht als politisches Engagement, aber zutiefst christliches, auch im Hinblick auf die Solidarität, werden Sie mitmachen müssen.

Wenn man diesen Ansatz jetzt nimmt, Herr Erzbischof Nossol, sind Sie auch ein­verstanden mit dem zum Teil doch nach wie vor sehr sehr großen Engagement von polnischen Bischöfen in der Politik? Mit anderen Worten gefragt: Es gibt doch ein sehr, sehr enges Verhältnis zwischen zum Beispiel der Partei „Recht und Gerechtig­keit" und einzelnen Bischöfen, die - wenn man es vorsichtig ausdrückt - doch relativ stark polarisieren. Ist diese Form von Nahe zwischen Kirche und Politik, wie sie derzeit zum Teil geübt wird in Polen, etwas, was Ihnen gefallt, oder gehen die Kollegen da­mit möglicherweise zu weit?

Mir gefällt sie nicht, aber ich verstehe sie. Geschichtlich genommen von vorneherein war die Kirche Polens mit der Politik Polens verbunden. Insofern war dauernd das Staatsanliegen in Polen irgendwie politisch verbunden. Und von vorneherein ist es auch Engagement. Man konnte so schlecht zwischen rein politischem und kirchlichem Anliegen differenzieren. Und deswegen fällt es einem echten Polen schwer, sich politisch zu enthalten, wenn er auch politisch oder kirchlich argumentiert. Mir sagt es persönlich nicht zu. Ich hasse es, ganz radikal gesagt, Politik mit Theolo­gie, mit Kirchlichkeit zu verbinden.

Herr Erzbischof Nossol heute im Interview der Woche des Deutschlandfunks. Herr Nossol, wenn wir auf den Ort, an dem wir uns jetzt hier treffen, nämlich in Kamień Śląski, in Groß Stein, also in Schlesien, dann ist das ein Ort, der geprägt ist auch von Diskussionen über das Unrecht der Vertreibung, wie Sie es immer genannt haben. Jetzt hat Ungarn in der vorigen Woche zum allerersten Male einen Gedenktag der Wertreibungsopfer begangen. Es gibt eine ganz starke Diskussion in Tschechien im Umfeld des Präsidentschaftswahlkampfes um Vertreibung als Unrecht, als Verbrechen. Glauben Sie, dass, wenn Deutsche und Polen auf dem Weg zu einem besseren Verhältnis zueinander sind, dass sie diese Diskussion noch einmal neu führen müssen?

Neu, wie neu. Aber sie muss auch ergänzt werden. Man muss ja auch Realist bleiben. Nämlich jedes Volk, jedes Land hat das Anrecht, über die eigene Vertreibung zu diskutieren, auch sie geschichtlich plausibel zu machen, aufzuzeigen. Aber dann muss es auch ideologisch ganz realistisch zugehen, ideologisch also, was dazu getrieben hat. Bevor die großen Vertreibungen nach 1945 stattgefunden haben, hatten schon so viele Vertreibungen in Mittel- und Osteuropa stattgefunden, wo die Wehrmacht die Länder einfach überfallen hat. Das muss auch mit gesagt werden. Und deswegen muss auch die Geschichte der Vertreibung nicht mit diesem Punkt Null beginnen, sondern schon mit der Vorgeschichte. Und in der Vorgeschichte sehen wir, dass es höchstwahrscheinlich zu den Vertreibungen nicht gekommen wäre, wenn nicht zuvor die mörderischen Vertreibungen auch stattgefunden hätten. Das ist die Realität. Bevor vielen Schlesiern die Heimat geraubt wurde, ist sie durch die SS, durch die Wehrmacht so vielen Menschen in Mittel- und Osteuropa auch schon geraubt worden. Eine gewisse Nachahmung. Natürlich, das ist keine Entschuldigung für die nächste Vertreibung.

An dem Tag, an dem heute der 68. Jahrestag der Befreiung des Lagers in Auschwitz begangen wird, muss man - oder kann man zumindest - auch über Antisemitismus sprechen, Antisemitismus, der in allen Ländern noch existiert, der auch in Polen existiert. Es ist vor Kurzem ein Film in den Kinos gelaufen über das Verbrechen in Jedwabne, der eine ungeheure Diskussion ausgelöst hat, auch eine sehr zugespitzte Reaktion, dass dieser polnischen Dorfbevölkerung dieses Verbrechen an jüdischen Mitbewohnern nachgewiesen werden konnte. Was zeigt Ihnen, Herr Erzbischof, diese Diskussion über Antisemitismus heute in Polen?

Allein der Begriff Antisemitismus, der a priori anti ist, das ist schlecht. Man darf einem Menschen unwohl gesinnt sein wegen dieses oder jenes Verbrechens, aber wenn es eine apriorische Antibewegung ist und es bezieht sich auf die ganze Nation, auf die ganze Volksgruppe, dann ist es gefährlich. Natürlich, bei uns hier in Polen war es mit dem Antisemitismus nicht von vorneherein nach dem Krieg so einwandfrei, nämlich 1946 in Kielce, da kam es auch zu einem Judenpogrom. Und das hat sich jetzt herausgestellt, das haben die Kommunisten inszeniert. Und alles bemüht sich jetzt, darauf hin zu deuten: Damals ging es schon los. Das war eigentlich nicht der Fall. Wissen Sie, jetzt endlich ist langsam die Zeit angebrochen, wo man auch in dieser Hinsicht objektiver bemüht ist, darüber zu handeln. Man ist bereit, Rede und Antwort zu stehen. Wir feierten am 17. Januar, also vergangene Woche, den Tag des Judaismus in Polen. Wir luden den israelischen Botschafter ein, den Oberrabbiner Polens. Ich versuchte plausibel zu machen: Ohne das erste Testament hätten wir nicht das zweite. Und sehen Sie, der erste, der eine Synagoge besucht hat in Rom war Johannes Paul II. Und dann auch an der Klagemauer. Ähnlich jetzt Benedikt XVI. an der Klagemauer, er hat die Synagoge auch besucht und nimmt auch regen Teil an den religiösen Gesprächen zwischen allen großen Religionen der Welt. Und da ist in der Zwischenzeit enorm vieles geschehen. Ohne Dialog geht es nicht, denn der Dialog hilft, aus Feinden Gegner zu machen und Gegner in Freunde umzuschmieden. Und die Zukunft sieht in dieser Hinsicht bedeutend menschlicher aus.

Ich möchte jetzt doch noch mal einen letzten Versuch unternehmen, eine Be­schreibung von Ihnen zu bekommen des deutsch-polnischen Verhältnisses. Wo fin­den Sie, wo stehen unsere beiden Länder?

Wenn ich dieses deutsch-polnische Verhältnis ins Visier genommen habe, wissenschaftlich, geschichtlich, theologisch, visionär, dann schwebte mir immer ein Schema vor, nämlich: Früher mal gab es ein sehr positives, quasi nachbarschaftliches Verhältnis. Der konkrete persönliche Beweis: Hedwig von Andechs, die kam nach Polen. Damals gehörte Niederschlesien dem pol­nischen Reich an und Hedwig von Andechs wurde mit dem schlesischen Piastenfürst- ten Heinrich dem Bärtigen vermählt.

Das war Jadwiga vor tausend Jahren.

Vor tausend Jahren. Und jetzt, wo wir auch das deutsch-französische Verhältnis nachzuahmen versuchen, erreichen wir langsam diesen Punkt, wo wir nebeneinander leben möchten, aber eingestellt sind, füreinander zu leben, sich gegenseitig zu ergänzen. Der beste Weg dazu ist das vereinte Europa als Gemeinschaft des Geistes. Europa ist ein Antidotum gegen jedwege nationalistisch chauvinistische und ethnische Einengung. Deswegen sollten wir der Vorsehung für das gemeinsame Europa dankbar sein.

Deutschlandfunk, Interview der Woche