Kurt Winger erlebte als Kind eine ungeheuerliche Odyssee - in Grunbach fand er eine neue, seine dritte Heimat.
Ein Artikel aus der Rems-Murr-Rund- schau Ausgabe 08.02.2023 von Maja Fiedler
Der Krieg entwurzelt die Menschen. Das Leid von Flüchtlingen ist uns zuletzt wieder seit Putins Angriff auf die Ukraine bewusstgeworden.
Narben der Vertreibung finden sich in den Leben vieler - davon erzählt auch die Geschichte des Remstälers Kurt Winger, 87.
„Ich musste zweimal meine Heimat verlassen.“ Kurt Wingers Vorfahren stammen ursprünglich aus Grunbach und verließen den Ort im frühen 19. Jahrhundert Richtung Osten. Sie siedelten sich in Sarata an, das in der heutigen Ukraine liegt. Dort wurde Kurt Winger im Jahr 1935 geboren und verbrachte seine ersten Jahre. „Wir lebten auf einem großen Bauernhof.“
1940 - kam es zur ersten Umsiedlung
Zuerst mit einem großen Treck, dann auf einem Schiff ging es in Richtung Westen. In Jugoslawien lebte die Familie in einem Sammellager. „Mein Großvater hat dort einen Chor gebildet, auch sonst habe ich das Lagerleben schön in Erinnerung.“ Nach einem Dreivierteljahr zogen sie nach Pieschen in Polen. Dort wurde der Familie ein großer Hof zugeteilt, den sie in den kommenden Jahren auf Vordermann brachten.
„Bei uns in der Nähe gab es einen Badesee, in dem die Soldaten öfters schwammen. Sonst habe ich nur wenig vom Krieg mitbekommen - bis mein Vater im Dezember 1944 eingezogen wurde.Als Bauer war er zuvor ein wichtiger Kriegsversorger gewesen.“
Nach Westen Mit einem Flüchtlingstreck
Anfang 1945 musste die Familie zum zweiten Mal aufbrechen. Die Rote Armee drang immer weiter gen Westen vor. Mit dem nötigsten Gepäck - warme Kleidung und Feldbetten - machte sie sich auf den Weg zum Bahnhof. Dort sollte der Treck starten.
Kurt Wingers Mutter aber kehrte noch einmal um, um die Großeltern zu suchen, weil sie nicht am Treffpunkt aufgetaucht waren - und kam nicht mehr rechtzeitig zum Bahnhof zurück: Der Treck mit den Kindern war bereits aufgebrochen. Die drei Geschwister, der neunjährige Kurt, die elphrige Erna und die vier Jahre alte Erika, waren nun ohne Eltern unterwegs. Auf dem Weg wurde der Treck aus der Luft angegriffen. „Unsere Pferde wurden von den Flugzeugen getroffen. Die Soldaten, die neben dem Treck liefen, haben sie dann einfach zur Seite in den Graben gekippt. Ich habe noch schnell die Aktentasche unseres Vaters aus dem Wagen geholt. Da waren alle wichtigen Dokumente drin.“
Dennoch spricht Kurt Winger von Glück
- denn ihr Weg verlief in Richtung Süden. Viele andere Flüchtlinge versuchten, im Norden über die Ostsee nach Deutschland zu gelangen: Bei Temperaturen von bis zu minus 25 Grad warteten sie in überfüllten Hafenorten auf die Schiffe. Im Januar 1945 geschah dort eines der größten Schiffsunglücke. Die Wilhelm Gustloff, mit mehr als 10 000 Passagieren an Bord, wurde von U-Booten beschossen und sank im eiskalten Meer. Nur etwa 1200 Menschen überlebten.
Am 1. Februar passierte der Treck die Grenze, bei Forst in der Lausitz. Dort nahm das deutsche Militär den Flüchtlingen die Pferde und Wagen ab. „Die Quittung dafür habe ich immer noch.“ Nach dem „Endsieg“, ausgehieß es, „sollte uns das zurückerstattet werden“.
Mit seinen Schwestern kam er in ein Kinderheim des Deutschen Roten Kreuzes. „Hier hat uns kurze Zeit später unsere Mutter wiedergefunden.“ Sich die Freude der Wiedervereinten vorzustellen, führt das Vorstellungsvermögen einer Nachgeborenen an Grenzen.
Bombenangriffe in Dresden
Schließlich traf die Familie in Dresden ein. Winger erinnert sich an die unzähligen Menschen, die am Bahnhof standen. Dresden war das Ziel vieler Flüchtlinge. „In der Nacht gab es einen Luftangriff auf die Stadt.
Wir saßen eng zusammengekauert im Luftschutzbunker und hatten Angst.“ Dresden wurde vom 13. bis zum 15. Februar bombardiert. Dabei verloren etwa 25 000 Menschen ihr Leben.
In Dresden-Gittersee erlebte die Familie das Kriegsende. Kurt Winger verbrachte die nächsten Monate auf einem Bauernhof. „Dort gab es endlich wieder etwas Richtiges zum Essen. Das Leben wurde langsam normal, und wir sind wieder in die Schule gegangen.“
Zum Vater hatte die Familie lange Zeit keinen Kontakt. Ende des Jahres aber hörten sie wieder voneinander: Nachdem er in amerikanischer Kriegsgefangenschaft gesessen war, zog er nach Grunbach, in die Heimat seiner Vorfahren.
Nun versuchte er, auch seine Familie dorthin zu holen.
Heiligabend 1945
„Nicht viel gespürt“
Bei Braunschweig passierten sie die russisch-englische Grenze, dann ging es mit verschiedenen Zügen weiter in den Süden. Der 87-Jährige erzählt von Heiligabend 1945: „Wir mussten uns in einem Güterwagen bei Heidelberg vor den amerikanischen Soldaten verstecken. Meine Schwester und ich haben in einigen Fenstern Weihnachtsbäume gesehen. In dem Moment habe ich nicht viel gespürt.“
Ankunft
Stuttgart und Rems-Murr-Kreis
Württemberg-Baden war der amerikanisch verwaltete Teil des heutigen Bundeslandes. Laut der Landeszentrale für politische Bildung betrug dort der Anteil der Heimatvertriebenen an der Gesamtbevölkerung durchschnittlich 18 Prozent. Fast drei Viertel aller Flüchtlinge waren unter 24 Jahren.
In Stuttgart wurde Familie Winger vom bessarabischen Hilfskomitee empfangen. Sie verbrachten eine Nacht in einem Bunker beim Pragsattel. Am nächsten Tag liefen sie von Fellbach nach Grunbach. „Dort legte ich mein Rucksack ab und setzte mich hin. Die Uhr schlug gerade drei Uhr Nachmittag.“ Er war zu diesem Zeitpunkt zehn Jahre alt. „Wir wurden in Grunbach sehr freundlich aufgenommen.“ Dafür gab es verschiedene Gründe: Die Vorfahren der Familie stammen aus Grunbach. Außerdem waren sie wie die meisten Einwohner evangelisch und sprachen Schwäbisch. Nicht alle Heimatvertriebenen hatten so viel Glück. Die Einheimischen litten selbst unter Hunger und Zerstörung durch den Krieg. Es war eine Last, noch mehr Menschen versorgen zu müssen.
Zunächst wurden viele Neuankömmlinge in Lagern, Kasernen oder Ähnlichem untergebracht.
Ein Beispiel dafür ist das Wasenlager in Waiblingen, nahe der heutigen Galerie Stihl. Die Hygienebedingungen waren miserabel, es gab kaum Platz. Deshalb musste auf Wohnraum von Privatpersonen ausgewichen werden. Auf Anweisung der Militärregierung im Sommer 1946 mussten alle ehemaligen NSDAP- Mitglieder ihre Wohnzimmer abgeben
- wenn das nicht ausreichte, wurden auch Zimmer von anderen Personen an Flüchtlinge verteilt. Das stieß auf Widerwillen in der Bevölkerung. Im alten Landkreis Waiblingen kamen bis 1948 etwa 25 000 Flüchtlinge an.
Kurt Winger fand in der neuen Heimat schnell Freunde und besuchte eine Schule in Schorndorf. Beide Elternteile sind nach der Flucht beruflich abgestiegen - so wie fast alle Vertriebenen. Seine Mutter, Tochter eines Hochschullehrers, arbeitete in Grunbach unter anderem als Putzfrau. Der Vater war Hilfsarbeiter. Dennoch genoss die Familie ein gutes Ansehen. Da die Eltern das Schulgeld nicht selbst zahlen konnten, wurden sie vom bessarabischen Hilfskomitee unterstützt - Kurt Winger konnte auf ein Internat nach Korntal gehen. Später schloss er die Schule mit der Mittleren Reife in Nürtingen ab und arbeitete viele Jahre als Geschäftsstellenleiter der Sparkassen-Versicherung in Remshal- den-Grunbach.
Rückblick
„Wir hatten ein gutes Leben“
Hilde Winger, seine Ehefrau, erinnert sich ebenfalls an die Zeit, in der die Heimatvertriebenen in den Rems- Murr-Kreis kamen. Sie selbst stammt aus Winterbach. Dort ankommende Ungarndeutsche wirkten auf viele Einheimische aufgrund der Bekleidung befremdlich. Die Menschen begegneten den Neuankömmlingen nicht so offen wie etwa den vertrauter wirkenden Wingers.
Hoffnung, einmal in die Heimat zurückkehren zu können, hatte der 87-Jährige nie. „Einmal besuchten wir aber den Hof in Pieschen. Vieles hat sich dort verändert.“ Er sagt: „Wir hatten ein gutes Leben und können zufrieden sein.“