Wydanie/Ausgabe 133/16.09.2024

Kurt Winger erlebte als Kind eine ungeheuerliche Odyssee - in Grunbach fand er eine neue, seine dritte Heimat.

Ein Artikel aus der Rems-Murr-Rund- schau Ausgabe 08.02.2023 von Maja Fiedler

Der Krieg entwurzelt die Menschen. Das Leid von Flüchtlingen ist uns zuletzt wie­der seit Putins Angriff auf die Ukraine be­wusstgeworden.

Narben der Vertreibung finden sich in den Leben vieler - davon erzählt auch die Geschichte des Remstälers Kurt Winger, 87.

„Ich musste zweimal meine Heimat ver­lassen.“ Kurt Wingers Vorfahren stam­men ursprünglich aus Grunbach und verließen den Ort im frühen 19. Jahrhun­dert Richtung Osten. Sie siedelten sich in Sarata an, das in der heutigen Ukraine liegt. Dort wurde Kurt Winger im Jahr 1935 geboren und verbrachte seine ers­ten Jahre. „Wir lebten auf einem großen Bauernhof.“

1940 - kam es zur ersten Umsiedlung

Zuerst mit einem großen Treck, dann auf einem Schiff ging es in Richtung Westen. In Jugoslawien lebte die Familie in einem Sammellager. „Mein Großvater hat dort einen Chor gebildet, auch sonst habe ich das Lagerleben schön in Erinnerung.“ Nach einem Dreivierteljahr zogen sie nach Pieschen in Polen. Dort wurde der Familie ein großer Hof zugeteilt, den sie in den kommenden Jahren auf Vorder­mann brachten.

„Bei uns in der Nähe gab es einen Bade­see, in dem die Soldaten öfters schwam­men. Sonst habe ich nur wenig vom Krieg mitbekommen - bis mein Vater im Dezember 1944 eingezogen wurde.Als Bauer war er zuvor ein wichtiger Kriegsversorger gewesen.“

Nach Westen Mit einem Flüchtlingstreck

Anfang 1945 musste die Familie zum zweiten Mal aufbrechen. Die Rote Armee drang immer weiter gen Westen vor. Mit dem nötigsten Gepäck - warme Klei­dung und Feldbetten - machte sie sich auf den Weg zum Bahnhof. Dort sollte der Treck starten.

Kurt Wingers Mutter aber kehrte noch einmal um, um die Großeltern zu suchen, weil sie nicht am Treffpunkt aufgetaucht waren - und kam nicht mehr rechtzeitig zum Bahnhof zurück: Der Treck mit den Kindern war bereits aufgebrochen. Die drei Geschwister, der neunjährige Kurt, die elphrige Erna und die vier Jahre alte Erika, waren nun ohne Eltern unterwegs. Auf dem Weg wurde der Treck aus der Luft angegriffen. „Unsere Pferde wur­den von den Flugzeugen getroffen. Die Soldaten, die neben dem Treck liefen, haben sie dann einfach zur Seite in den Graben gekippt. Ich habe noch schnell die Akten­tasche unseres Vaters aus dem Wagen geholt. Da waren alle wichtigen Doku­mente drin.“

Dennoch spricht Kurt Winger von Glück

 - denn ihr Weg verlief in Richtung Sü­den. Viele andere Flüchtlinge versuch­ten, im Norden über die Ostsee nach Deutschland zu gelangen: Bei Tempe­raturen von bis zu minus 25 Grad war­teten sie in überfüllten Hafenorten auf die Schiffe. Im Januar 1945 geschah dort eines der größten Schiffsunglü­cke. Die Wilhelm Gustloff, mit mehr als 10 000 Passagieren an Bord, wurde von U-Booten beschossen und sank im eis­kalten Meer. Nur etwa 1200 Menschen überlebten.

Am 1. Februar passierte der Treck die Grenze, bei Forst in der Lausitz. Dort nahm das deutsche Militär den Flüchtlin­gen die Pferde und Wagen ab. „Die Quit­tung dafür habe ich immer noch.“ Nach dem „Endsieg“, ausgehieß es, „sollte uns das zurückerstattet werden“.

Mit seinen Schwestern kam er in ein Kin­derheim des Deutschen Roten Kreuzes. „Hier hat uns kurze Zeit später unsere Mutter wiedergefunden.“ Sich die Freude der Wiedervereinten vorzustellen, führt das Vorstellungsvermögen einer Nach­geborenen an Grenzen.

Bombenangriffe in Dresden

Schließlich traf die Familie in Dresden ein. Winger erinnert sich an die unzähli­gen Menschen, die am Bahnhof standen. Dresden war das Ziel vieler Flüchtlinge. „In der Nacht gab es einen Luftangriff auf die Stadt.

Wir saßen eng zusammengekauert im Luftschutzbunker und hatten Angst.“ Dresden wurde vom 13. bis zum 15. Fe­bruar bombardiert. Dabei verloren etwa 25 000 Menschen ihr Leben.

In Dresden-Gittersee erlebte die Familie das Kriegsende. Kurt Winger verbrachte die nächsten Monate auf einem Bauern­hof. „Dort gab es endlich wieder etwas Richtiges zum Essen. Das Leben wurde langsam normal, und wir sind wieder in die Schule gegangen.“

Zum Vater hatte die Familie lange Zeit keinen Kontakt. Ende des Jahres aber hörten sie wieder voneinander: Nach­dem er in amerikanischer Kriegsgefan­genschaft gesessen war, zog er nach Grunbach, in die Heimat seiner Vorfah­ren.

Nun versuchte er, auch seine Familie dorthin zu holen.

Heiligabend 1945

„Nicht viel gespürt“

Bei Braunschweig passierten sie die russisch-englische Grenze, dann ging es mit verschiedenen Zügen weiter in den Süden. Der 87-Jährige erzählt von Heiligabend 1945: „Wir mussten uns in einem Güterwagen bei Heidelberg vor den amerikanischen Soldaten verste­cken. Meine Schwester und ich haben in einigen Fenstern Weihnachtsbäume gesehen. In dem Moment habe ich nicht viel gespürt.“

Ankunft

Stuttgart und Rems-Murr-Kreis

Württemberg-Baden war der amerika­nisch verwaltete Teil des heutigen Bun­deslandes. Laut der Landeszentrale für politische Bildung betrug dort der Anteil der Heimatvertriebenen an der Gesamt­bevölkerung durchschnittlich 18 Prozent. Fast drei Viertel aller Flüchtlinge waren unter 24 Jahren.

In Stuttgart wurde Familie Winger vom bessarabischen Hilfskomitee empfan­gen. Sie verbrachten eine Nacht in einem Bunker beim Pragsattel. Am nächsten Tag liefen sie von Fellbach nach Grun­bach. „Dort legte ich mein Rucksack ab und setzte mich hin. Die Uhr schlug gerade drei Uhr Nachmittag.“ Er war zu diesem Zeitpunkt zehn Jahre alt. „Wir wurden in Grunbach sehr freundlich auf­genommen.“ Dafür gab es verschiedene Gründe: Die Vorfahren der Familie stam­men aus Grunbach. Außerdem waren sie wie die meisten Einwohner evange­lisch und sprachen Schwäbisch. Nicht alle Heimatvertriebenen hatten so viel Glück. Die Einheimischen litten selbst unter Hunger und Zerstörung durch den Krieg. Es war eine Last, noch mehr Men­schen versorgen zu müssen.

Zunächst wurden viele Neuankömmlin­ge in Lagern, Kasernen oder Ähnlichem untergebracht.

Ein Beispiel dafür ist das Wasenlager in Waiblingen, nahe der heutigen Galerie Stihl. Die Hygienebedingungen waren miserabel, es gab kaum Platz. Deshalb musste auf Wohnraum von Privatperso­nen ausgewichen werden. Auf Anwei­sung der Militärregierung im Sommer 1946 mussten alle ehemaligen NSDAP- Mitglieder ihre Wohnzimmer abgeben

- wenn das nicht ausreichte, wurden auch Zimmer von anderen Personen an Flüchtlinge verteilt. Das stieß auf Widerwillen in der Bevölkerung. Im alten Landkreis Waiblingen ka­men bis 1948 etwa 25 000 Flüchtlinge an.

Kurt Winger fand in der neu­en Heimat schnell Freunde und besuchte eine Schule in Schorndorf. Beide Eltern­teile sind nach der Flucht beruflich abgestiegen - so wie fast alle Vertriebenen. Seine Mutter, Tochter eines Hochschullehrers, arbeitete in Grunbach unter anderem als Putzfrau. Der Vater war Hilfsarbeiter. Dennoch ge­noss die Familie ein gutes Ansehen. Da die Eltern das Schulgeld nicht selbst zahlen konnten, wurden sie vom bessarabischen Hilfskomitee unterstützt - Kurt Winger konnte auf ein Internat nach Korntal gehen. Später schloss er die Schule mit der Mittleren Reife in Nürtingen ab und arbeitete vie­le Jahre als Geschäftsstellenleiter der Sparkassen-Versicherung in Remshal- den-Grunbach.

Rückblick

„Wir hatten ein gutes Leben“

Hilde Winger, seine Ehefrau, erinnert sich ebenfalls an die Zeit, in der die Heimatvertriebenen in den Rems- Murr-Kreis kamen. Sie selbst stammt aus Winterbach. Dort ankommende Ungarndeutsche wirkten auf viele Ein­heimische aufgrund der Bekleidung be­fremdlich. Die Menschen begegneten den Neuankömmlingen nicht so offen wie etwa den vertrauter wirkenden Wingers.

Hoffnung, einmal in die Heimat zurück­kehren zu können, hatte der 87-Jährige nie. „Einmal besuchten wir aber den Hof in Pieschen. Vieles hat sich dort verändert.“ Er sagt: „Wir hatten ein gu­tes Leben und können zufrieden sein.“