Wydanie/Ausgabe 132/04.07.2024

Menschen, die nach dem Zweiten Weltkrieg gezwungen wurden, ihre Heimat im Osten zu verlassen, prägten den vollbesetzten Kölner Dom. Gemeinsam mit Kardinal Woelki feierten sie die 75. Diözesanwallfahrt für Vertriebene und Aussiedler.

Gottesdienst für die Heimatvertriebenen

Es ist nicht nur die Generation der Hochbetagten, die an diesem Sonntagmittag auf Einladung der Vertriebenen- und Aussiedlerseelsorge in den Kölner Dom gekommen ist. Dabei sind trotzdem sie es, die noch zu den wenigen Zeitzeugen gehören, die nach 1945 am eigenen Leib erfahren haben, wie es ist, aus dem eigenen Haus, aus dem eigenen Dorf und dem, was sie in ihrer Kindheit als Heimat erlebt haben, erbarmungslos mit Waffengewalt vertrieben zu werden.

Unter den vielen hundert Gottesdienstbesuchern, die den Dom bis auf den letzten Platz füllen, befindet sich auch deren Kinder- und Enkelgeneration, und es sind erkennbar immer wieder auch Menschen, die sich weniger dem Ermland, Schlesien, Oberschlesien oder dem Sudetenland zuordnen lassen, aber dennoch einen Migrationshintergrund haben und eher eine aktuelle Fluchtgeschichte zu erzählen hätten.

Schlesische Fahnen

Und doch sind eindeutig in der Mehrzahl diejenigen, die bei dieser 75. Diözesanwallfahrt für Heimatvertriebene und Aussiedler Fahnen der Landsmannschaften aus Oberschlesien und Schlesien schwenken.

Eine von ihnen, die die Vertreibung als Fünfjährige miterlebt hat, aber Erinnerungen daran nur aus den Erzählungen ihrer Mutter kennt, ist Christa Freusberg. "Wir sind 1945 zu sechst mit dem letzten Viehwagen aus Gleiwitz geflüchtet."

Gottesdienst für die Heimatvertriebenen

Ihre Mutter habe zwei Handtücher zu einem Rucksack gebunden, darin den Schmuck versteckt, gegen den sie auf der Flucht immer wieder Lebensmittel eingetauscht habe, und gehofft, dass die Familie es heil in den Westen schafft. "Egal, wo wir landen, die Hauptsache wir sind zusammen - das hat meine Mutter immer gesagt."

Auch daran, dass sie bis zu ihrem Tod davon berichtet hat, gleich mehrfach von den Russen vergewaltigt worden zu sein, während der Vater von den Polen verschleppt wurde, erinnert sich die Tochter. "Erst 1950 kam er völlig ausgemergelt als Kriegsversehrter wieder zurück."

Bindung an Oberschlesien als identitätsstiftend erlebt

Trotz dieser traumatischen Geschichten habe sie immer mal in die alte Heimat reisen wollen. "Aber irgendwie hat es sich nie ergeben." Heute ist die 83Jährige schon viele Jahre stellvertretende Vorsitzende der oberschlesischen Landsmannschaft in Düsseldorf und versucht hier, die Bindung an Oberschlesien, die sie zeitlebens als identitätsstiftend erlebt hat, mit Leben zu füllen: Feste zu feiern und Ausflüge zu organisieren.

Aber das sei zuletzt kaum noch möglich gewesen, sagt Freusberg. "Von den ehemals 350 Mitgliedern sind die meisten verstorben. Nun sind wir nur noch 20."

Zusammengehörigkeitsgefühl

Trotzdem findet sie gemeinsame Treffen wichtig, vor allem auch die alljährliche Wallfahrt. Jedes Jahr nehme sie daran teil, zumal hier immer wieder neu das Zusammengehörigkeitsgefühl belebt werde.

"Wenn ich die alten Lieder singe, ist man sofort wieder ganz drin. Dann kommt die Geschichte wieder hoch." Solange der Verein bestehe - Freusberg gehört ihm seit 40 Jahren an - werde sie mitmachen. Die Erinnerung an die Heimat wach halten - das gehört für sie und alle, die an dieser Wallfahrt Jahr für Jahr teilnehmen, dazu.

Richard Rybak

"Die Pflege unserer typischen Landestraditionen liegt uns allen am Herzen, und unsere Verbundenheit wird an einem Tag wie diesem ganz besonders spürbar

Auch Richard Rybak, der 1988 aus dem oberschlesischen Beuthen mit den Eltern und seinem Bruder flüchtet - auf einer Reise nach Hamburg setzt sich die Familie in den Westen ab - bedeutet es viel, mit anderen Oberschlesiern, die seine Fluchterfahrungen auf die eine oder andere Weise teilen, zusammenzutreffen. "Die Pflege unserer typischen Landestraditionen liegt uns allen am Herzen, und unsere Verbundenheit wird an einem Tag wie diesem ganz besonders spürbar."

Wurzeln und Identität

So erlebt es auch Georg Muschalik aus Laband, einem Stadtteil im heutigen Gliwice, dem einst oberschlesischen Gleiwitz, der 1980 als Aussiedler über ein Programm der Familienzusammenführung mit seinen Eltern, den Schwestern und deren Kindern in den Westen kommt.

"Es geht um unsere Wurzeln, um Identität. Oberschlesien ist das, was ich bin." Die primäre Aufgabe der Landsmannschaften sei es, die Menschen zusammenzubringen, die damals alles verloren hätten. Dabei spielt für den 63­Jährigen, der sich ehrenamtlich bei Projekten der deutsch-polnischen Zusammenarbeit engagiert, der Versöhnungsgedanke eine zentrale Rolle. "Wir sind sehr gläubig erzogen worden", sagt er und fügt mit Nachdruck hinzu: "Wir alle müssen uns gemeinsam für Europa stark machen."

Rainer Maria Kardinal Woeiki

"Wer durch Krieg, Terror und Zerstörung der Heimat auf der Flucht ist, wer um Leib und Leben fürchten muss, wer die Ermordung oder Vergewaltigung von Angehörigen, Nachbarn oder Freunden miterleben musste (...) der muss offene Herzen, offene Grenzen und offene Türen vorfinden."

Eine "deutschlandweite, europaweite Solidarität" und Initiativen zur Bekämpfung der Fluchtursachen fordert in seiner Predigt Erzbischof Woelki angesichts der aktuellen Fluchtbewegungen von weltweit 108,4 Millionen Menschen.

"Wer durch Krieg, Terror und Zerstörung der Heimat auf der Flucht ist, wer um Leib und Leben fürchten muss, wer die Ermordung oder Vergewaltigung von Angehörigen, Nachbarn oder Freunden miterleben musste, erst einmal nicht mehr zurückkehren kann und bei uns Zuflucht sucht, der muss offene Herzen, offene Grenzen und offene Türen vorfinden", mahnt der Kardinal wörtlich und nimmt dabei vor allem auch die Politik in die Pflicht. Das sei nicht nur eine Frage der Menschlichkeit, sondern auch der deutschen Geschichte geschuldet, betont er.

Gottesdienst für die Heimatvertriebenen

Woelki dazu auf, Verantwortung für Kirche und Welt zu übernehmen - wie damals nach dem Zweiten Weltkrieg - und sich gemeinsam der Aufgabe, ein geeintes Europa zu gestalten, in dem Gottes Schöpfungsordnung gelte, zu stellen. An die versammelten Familien der Heimatvertriebenen, an die Gemeinschaften und Verbänden appelliert er, Gott im Alltag einen Platz einzuräumen und dafür zu sorgen, dass der Glaube nicht erkalte und Gott nicht beiseitegeschoben werde.